Renate Solbach: Camera inversa | Eine Frau von fünfzig Jahren 8/9
Das Übel war die Differenz, nicht die Tatsache der biologischen Differenz, die Tatsache, dass es diese gab, sondern das Reden in und über die Differenz, die Aufteilung der Welt in Männer und Frauen als Geschlechtswesen mit einer bestimmten – über- oder unterlegenen, je nach Perspektive – ›Natur‹. Da half auch die Einführung des Begriffs ›gender‹ nicht, verschleierte nur die Tatsache, dass er diese Grunddifferenz weiter transportierte, die verhinderte, dass noch länger von Menschen die Rede war.
Das Fremdartige rührt von der Fremdartigkeit der Welt her, nicht vom Geschlecht. Es trifft jeden Menschen mit derselben Wucht und erwächst daraus, dass man in eine Welt hineingeboren wird, die von Ursprung und Zuschnitt nicht die eigene ist, mit der man auskommen lernt oder auch nicht, die man erkunden und zu der man eine Haltung einnehmen muss. Die conditio humana, die nicht zwischen Männern und Frauen unterscheidet – eine Form der Gleichheit. Das Geschlecht als Ausprägung des Menschseins war sekundär gegenüber dieser Tatsache, bedeutete, sich ins Verhältnis zu setzen zu den Möglichkeiten, die eine Gesellschaft für das Ausagieren der Geschlechterrollen bot. In einer Zeit, in der die rechtliche Gleichheit im Grundgesetz verankert war, verhieß das nicht nur die Möglichkeit dies auch mental, also im Bewusstsein jedes Einzelnen, zu realisieren, sondern war die nötige Aufforderung an sie und ihn. Eine schwierige Aufgabe in einer Gesellschaft, die die Selbstbestimmung propagierte, die Ausbildung der Person aber für etwas Überholtes hielt. Selbstbestimmung musste einen Grund im Menschen haben, um nicht zum Schnäppchenverhalten zu verkommen. Sa cosa voglio.
   © Acta litterarum 2009