Renate Solbach: Camera inversa | Eine Frau von fünfzig Jahren 8/10
Claire kannte die Argumente dagegen in- und auswendig. Bildungsballast? Selbst das Empfinden, sich auf diesen Buchseiten nicht wiederzufinden, hatte einen unangenehmen Beigeschmack. Handelte es sich doch um eine Stereotype, die in den endlosen Debatten und Streitigkeiten der Feministinnen während der letzten Jahrzehnte immer dann geäußert wurde, wenn es galt einem klugen aber widerspenstigen Gedanken die Wirkung zu nehmen. Das Vetorecht der Bewegten. Das Minderheitenvotum, das Que(e)r-Denken hatten sich in zarten Frauenhänden zu Totschlägern gewandelt, denen keine Vernunft Einhalt zu gebieten vermochte. Entzauberung. Grundübel Rechenhaftigkeit. Beauvoir trifft Bovary. Wesen, zwischen denen Welten zu liegen schienen, rückten erschreckend nahe zusammen.
Die Frauenideologie hatte erreicht, dass eine Frau, wollte sie als modern gelten, sich ganz bestimmten Bildern und Vorstellungen unterwarf. Ihre Ablehnung war der Beweis für Rückschrittlichkeit und falsches Bewusstsein. (Auch das ein Totschläger, die These vom falschen Bewusstsein. Sie konnte bei Bedarf jeder und allem jederzeit attestiert werden.) Selbstverwirklichung. Gefugt und gerahmt. Es hatte sich also nicht viel geändert. Die Rollenkonflikte blieben und die starren Bilder von dazumal ersetzten neue – ebenso starre. Es sei denn, frau lehnte bestimmte Rollen von vorneherein einfach ab, ohne die gesellschaftlichen und menschlichen Folgen zu bedenken. Das Spiel der Erwägungen und Entscheidungen, die jedem Menschen frei standen.
   © Acta litterarum 2009