Anne Corvey: Camera inversa | Eine Frau von fünfzig Jahren 12/02
Sie musste für sich den Punkt bestimmen, von dem aus sie sich auf den Weg  machen wollte. Die ebenso einleuchtende wie absurde Rede vom leeren Kern war ein das Denken verstellendes Bild. Die Leerstelle. Du sollst Dir kein Bild machen. Ein wahrer Satz, der falsch wurde, mündete er in der Rede von der Leerstelle als einer Rede, die dazu diente, sich von der unendlichen Aufgabe zu befreien. Übrig blieb die Worthülse auf dem Gefechtstand der Meinungen. Rede, die zu Gerede mutiert war. Claire streckte sich ein wenig, schloss für einen Moment die Augen und verschloss mit kräftigem Druck der Mittelfinger ihre Gehörgänge. Die Vorstellung vom sich selbst perpetuierenden Gerede – auch eine Anwendungsmöglichkeit der Systemtheorie – erzeugte ein Surren und Brummen, das einen klaren Gedanken im Entstehen erstickte wie die Geräusche zu tief fliegender Düsenjäger über der idyllischen Landschaft der Kindheit.
Das Verdikt, sich kein Bild zu machen, ein ursprünglich religiöses, war gegen falsche Festschreibungen gerichtet: Die Ausmalung eines Absoluten mit lebensweltlichen Farben. In einer Mediengesellschaft, die unermüdlich visualisierte, war eine bildlose Existenz nahezu unmöglich. Die äußeren Bilder überlagerten die inneren. Die berühmten Seherinnen und Seher waren oftmals blind. Teiresias, der einzig wahrhaft Weise in Theben, der mit seinen blinden Augen alles durchschaute. Die Brust und den Schoß der Athene hatte er gesehen, die Sonne durfte er nicht wiedersehen. Die Göttin legte die Hand auf seine Augen und machte ihn blind.
   © Acta litterarum 2009