Renate Solbach: Camera inversa | Eine Frau von fünfzig Jahren 12/03
Sich kein Bild zu machen hieß heute, sich dem Tanz der Bilder zu überlassen ohne die (lebens-) notwendige Selektion. Die Leerstelle als Tummelplatz. Feministisch gewendet war die Frau die Leerstelle. Rückkehr zum mythischen Zustand? Das hatte Claire sich nicht ausgedacht, sie hatte es gelesen in den Schriften diskursiver Fluxusgeschöpfe. Die Frau, als die patriarchalisch Be- und Gezeichnete, die die ganz Andere war. Das ganz Andere aber war im abendländischen Denken Gott, das Wesen, der Ursprung oder wie auch immer das oberste Prinzip heißen mochte. An dieser Stelle saß nun Frau und mühte sich klagend ab. Zum Beispiel mit der Sprache, die ihr ebenfalls als eine von Männern gemachte erschien. Beim Zeus, was soll man dazu sagen? Die Gleichheit wurde nicht erreicht, schließlich konnte sie nie Gott nur Göttin werden. Neben dem Körper wurde die Sprache von bestallten Klageweibern wortreich als Ort der Heimatlosigkeit betrauert. Eine die Frau ausschließende Sprache. Welche das war? Sicher nicht die Muttersprache. Sprachen die Frauen in fremden Zungen? Ich liebe dich zerfließt, verströmt, ertrinkt, verbrennt, verliert sich im Abgrund. Das Blut ist uns geläufig vertraut. Das Blut: nah. Du bist ganz rot. Und so weiß.
Claire schüttelte sich bei dem Gedanken an all die beredten Tanten, die wahre Sturzbäche von Worten auf das Kind Claire herabregnen ließen. Sie sah sich zwischen überdimensionale Brüste gebettet, die heftig vibrierten von den Affekten, die sich in diesen Wortkaskaden entluden. Die Männer, von den Tanten mitgeführt wie Salonpudel, hatten keine Chance. Sicher eine präfeministische Erscheinung.
   © Acta litterarum 2009