Renate Solbach: Camera inversa
| Klytämnestras Gefangene 1/1
Klytämnestras Gefangene
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Allein
mit ihren Gedanken und ihrem Notebook wuchs die Gewissheit. Hier war
sie sicher. Hier griff niemand sie an. Kein anderer jedenfalls. Es sei
denn, die anderen hätten sich längst eingenistet in ihr und fertigten
Scherenschnitte in ihrem Kopf. Die
im Netz ihrer Geschichten sich verfangende Frau, die Befreiung sucht
und scheut, die den Dialog will und fürchtet, die etwas Erzählbares aus
sich heraussetzen möchte und sich doch völlig einspinnt in ihren
Monolog.
Erzählen hieß für Hannah innehalten, einen Schnitt
machen, einen Anfang setzen: den Strom stauen. Autoren, die das Leben
›abschreiben‹, waren ihr suspekt. Wo aber den Schnitt setzen? Sie
schritt die Reihe der Namen und Ereignisse, der Kleinigkeiten und
Katastrophen, die ein Leben ausmachen, ab. Einzelne Sätze lösten sich.
Wo kamen sie her? Wo trieben sie hin? Sie tastete jedes Wort ab,
kostete seinen Geschmack im Mund. Keines verriet sich. Auf diese Weise
war es möglich, ein Leben vorbeischweben zu lassen, ohne seiner Form
habhaft zu werden. Als man die
Gefangenen zwang, die Massengräber auszuheben, traten die Toten durch
ihre Poren in sie ein und wanderten über den Blutkreislauf in ihre
Hirne und Herzen. Im Dienst an der Literatur den Acheron überqueren. In seinem Schattendasein war ihm die Erinnerung ein unerschöpflicher Quell. Murmelnde und raunende Wasser.