Anne Corvey: Camera inversa | Klytämnestras Gefangene 1/1
Klytämnestras Gefangene
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Allein mit ihren Gedanken und ihrem Notebook wuchs die Gewissheit. Hier war sie sicher. Hier griff niemand sie an. Kein anderer jedenfalls. Es sei denn, die anderen hätten sich längst eingenistet in ihr und fertigten Scherenschnitte in ihrem Kopf. Die im Netz ihrer Geschichten sich verfangende Frau, die Befreiung sucht und scheut, die den Dialog will und fürchtet, die etwas Erzählbares aus sich heraussetzen möchte und sich doch völlig einspinnt in ihren Monolog.
Erzählen hieß für Hannah innehalten, einen Schnitt machen, einen Anfang setzen: den Strom stauen. Autoren, die das Leben ›abschreiben‹, waren ihr suspekt. Wo aber den Schnitt setzen? Sie schritt die Reihe der Namen und Ereignisse, der Kleinigkeiten und Katastrophen, die ein Leben ausmachen, ab. Einzelne Sätze lösten sich. Wo kamen sie her? Wo trieben sie hin? Sie tastete jedes Wort ab, kostete seinen Geschmack im Mund. Keines verriet sich. Auf diese Weise war es möglich, ein Leben vorbeischweben zu lassen, ohne seiner Form habhaft zu werden. Als man die Gefangenen zwang, die Massengräber auszuheben, traten die Toten durch ihre Poren in sie ein und wanderten über den Blutkreislauf in ihre Hirne und Herzen. Im Dienst an der Literatur den Acheron überqueren. In seinem Schattendasein war ihm die Erinnerung ein unerschöpflicher Quell. Murmelnde und raunende Wasser.
   © Acta litterarum 2009