Anne Corvey: Camera inversa | Klytämnestras Gefangene 1/2
Ein Flüchtlingsstrom. Die Frauen mit Kopftuch, das quengelnde Kind an der Hand, die Männer vom Ernst der Situation gezeichnet, alle mit Pappkartons und Koffern bewaffnet. Jahr um Jahr eifrig produzierte Erinnerungsstücke. Ging es darum, Verlorenes zusammenzutragen? Wollte eine Nation sich aus Splittern und Scherben neu erbauen? Das ging nicht nahtlos und so erklärte man die Narben und Klebestellen zu Ehrenzeichen.
Mit energischem Griff schloss Hannah das Notebook. Sie fröstelte und ertappte sich bei dem Versuch, einen Sonnenkringel vom Schreibtisch zu wischen. Seufzend ging sie in die Küche, um sich einen Kaffee zu holen. Mit dem Schreiben würde es heute vormittag nichts mehr werden. Sie richtete sich in der Sofaecke ein und nahm die Lektüre vom Vorabend auf. Sie befand sich an einer entscheidenden Stelle. Es waren kritische Minuten gewesen, in denen man den Preis für das Geborensein bezahlt. Verwandlungen im Angesicht des mordenden Engels. Die Worte trafen Hannah ungeschützt. Der Gedanke einer Frau formte sich, die die schmerzlichen Erkenntnisse verweigert hatte. Der Waffenstillstand mit der Wahrheit hatte sie genötigt, mit geschlossenen Augen zu leben. Und plötzlich schlug sie die Augen auf. Kassandra tauchte empor. Hannah zog sich vor dem Anprall der alle Dämme hinwegspülenden Sätze zurück, die sich Eingang zu schaffen suchten. In ihr Inneres? Oder kamen sie von dort? Sie war verwirrt, wusste es nicht. Wenn die Schrecken der Zeit, in die das eigene Leben eingebettet ist, mit einem Mal das innere Auge überfluten, wie die Badenden die erste mörderische Welle eines Tsunami... Ein Vergleich, den Hannah sich augenblicklich verbot, aus naheliegenden Gründen.
   © Acta litterarum 2009