Renate Solbach: Camera inversa
| Klytämnestras Gefangene 1/2
Ein
Flüchtlingsstrom. Die Frauen mit Kopftuch, das quengelnde Kind an der
Hand, die Männer vom Ernst der Situation gezeichnet, alle mit
Pappkartons und Koffern bewaffnet. Jahr um Jahr eifrig produzierte
Erinnerungsstücke. Ging es darum, Verlorenes zusammenzutragen? Wollte
eine Nation sich aus Splittern und Scherben neu erbauen? Das ging nicht
nahtlos und so erklärte man die Narben und Klebestellen zu
Ehrenzeichen.
Mit energischem Griff schloss Hannah das Notebook.
Sie fröstelte und ertappte sich bei dem Versuch, einen Sonnenkringel
vom Schreibtisch zu wischen. Seufzend ging sie in die Küche, um sich
einen Kaffee zu holen. Mit dem Schreiben würde es heute vormittag
nichts mehr werden. Sie richtete sich in der Sofaecke ein und nahm die
Lektüre vom Vorabend auf. Sie befand sich an einer entscheidenden
Stelle. Es waren kritische Minuten
gewesen, in denen man den Preis für das Geborensein bezahlt.
Verwandlungen im Angesicht des mordenden Engels. Die Worte
trafen Hannah ungeschützt. Der Gedanke einer Frau formte sich, die die
schmerzlichen Erkenntnisse verweigert hatte. Der Waffenstillstand mit
der Wahrheit hatte sie genötigt, mit geschlossenen Augen zu leben. Und
plötzlich schlug sie die Augen auf. Kassandra tauchte empor. Hannah zog
sich vor dem Anprall der alle Dämme hinwegspülenden Sätze zurück, die
sich Eingang zu schaffen suchten. In ihr Inneres? Oder kamen sie von
dort? Sie war verwirrt, wusste es nicht. Wenn die Schrecken der Zeit,
in die das eigene Leben eingebettet ist, mit einem Mal das innere Auge
überfluten, wie die Badenden die erste mörderische Welle eines
Tsunami... Ein Vergleich, den Hannah sich augenblicklich verbot, aus
naheliegenden Gründen.