Renate Solbach: Camera inversa
| Klytämnestras Gefangene 2/1
2
Kassandra
stand an der Reling des Schiffes, das sie und die anderen Troierinnen,
Gefangene sie alle, in Agamemnons Heimat bringen sollte, einer sicher
schmachvollen und unbekannten Zukunft und einer, wie konnte es anders
sein, zürnenden und rachsüchtigen Klytaimnestra entgegen, die den
Opfertod ihrer Tochter nie verwunden hatte. Um die siebente
Abendstunde könnte es gewesen sein. Das ist die Stunde des Tages, an
der die tiefstehende Sonne den Hafen in ein Licht taucht, das magischem
Zauber gleich aus dem Innersten der Gegenstände zu kommen scheint. Fahren die Schiffe nicht am Morgen?
Der letzte Blick auf die Heimat, als Blick auf ein ›Wesen‹ der Dinge
und Menschen, die man hinter sich lässt. Christa Wolfs Beschreibung in
ihren Poetikvorlesungen, die sie als Reise durch die Zeiten
inszenierte, ließ Kassandra als leuchtendes Beispiel eines explizit
weiblichen Sehrasters erstrahlen. Ein Mythos. Auch Laokoon fand mit
seinen Warnungen vor dem Trojanischen Pferd keinen Glauben bei den
Zeitgenossen. Die Göttin schickte Schlangen, die dem Unglauben tödliche
Plausibilität verliehen. Vor der Macht verblasst das Geschlecht.