Anne Corvey: Camera inversa | Klytämnestras Gefangene 2/1
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Kassandra stand an der Reling des Schiffes, das sie und die anderen Troierinnen, Gefangene sie alle, in Agamemnons Heimat bringen sollte, einer sicher schmachvollen und unbekannten Zukunft und einer, wie konnte es anders sein, zürnenden und rachsüchtigen Klytaimnestra entgegen, die den Opfertod ihrer Tochter nie verwunden hatte. Um die siebente Abendstunde könnte es gewesen sein. Das ist die Stunde des Tages, an der die tiefstehende Sonne den Hafen in ein Licht taucht, das magischem Zauber gleich aus dem Innersten der Gegenstände zu kommen scheint. Fahren die Schiffe nicht am Morgen? Der letzte Blick auf die Heimat, als Blick auf ein ›Wesen‹ der Dinge und Menschen, die man hinter sich lässt. Christa Wolfs Beschreibung in ihren Poetikvorlesungen, die sie als Reise durch die Zeiten inszenierte, ließ Kassandra als leuchtendes Beispiel eines explizit weiblichen Sehrasters erstrahlen. Ein Mythos. Auch Laokoon fand mit seinen Warnungen vor dem Trojanischen Pferd keinen Glauben bei den Zeitgenossen. Die Göttin schickte Schlangen, die dem Unglauben tödliche Plausibilität verliehen. Vor der Macht verblasst das Geschlecht.
   © Acta litterarum 2009