Renate Solbach: Camera inversa
| Klytämnestras Gefangene 3/1
3
Tzetzes, ein byzantinischer Gelehrter aus dem zwölften Jahrhundert, führt in Prolegomenon ad Lycophron
die verschiedenen Namen Cassandras Tochter des Priamus, König zu Troja
und der Hekuba, einer Prinzessin aus Thrakien auf, die in sprechender
Beziehung zu ihrem Charakter stehen sollen. Bei ihm liest man auch die
folgende Begebenheit: Als sie mit
ihrem Bruder, dem gedachten Helenus einsmales, noch als ein Kind, des
Nachts entweder aus Vergessenheit, oder auch mit Fleiß in dem Tempel
des Thymbräischen Apollo gelassen wurde, so fand man sie früh Morgens
beyde in dem Zustande wieder, daß sie von Schlangen umwickelt waren,
welche ihnen die Ohren ausleckten, sonst aber keinen Schaden thaten.
Hieraus schloß man denn gleich, daß sie beyde gute Weißager werden
würden. Ähnliches behauptet Porphyrius: Die Tatsache, dass
seherischen Menschen ein besonderer Feinsinn innewohne, sei darauf
zurückzuführen, dass Schlangen ihnen die Ohren reinigten.
Das altgriechische Wort für ›Seher‹ ist mantis: von Gott Begeisterter und die Kunst, Kommendes vorherzusagen. Die
andere Bedeutung, die die Griechen den Schlangen zuschrieben, war die
mantische. Sie galten als wahrsagende Dämonen, und Aelian sagt
geradezu, dass die Mantik etwas den Schlangen eigenes sei. Eine
Schlange, die pythische, war eng verbunden mit dem weissagenden Orakel
des Apollo zu Delphi. Deshalb war der Dreifuß der Pythia mit Schlangen
geschmückt. Von diesem heiligen Gerät stammt die bronzene Säule aus
zusammengeringelten Schlangen, die Konstantin aus Delphi nach
Konstantinopel brachte. Hier stehen wir am entscheidenden Punkt einer
religiösen Entwicklung. Während in alter Zeit die Schlangen ebenso wie
andere unheimliche und selbst phantastische Tiere, als mächtige Dämonen
gelten konnten, widerstrebte das dem Geist des klassischen Griechentums
durchaus. Es hat von seinen Göttern die Vorstellung erhabener unendlich
schöner Wesen, die über die Erde und den Menschen walten. In diesem
tieferen und harmonischen Verstehen des Gottes wird die Schlange aus
einem Dämon zum Begleittier und selbst zum Attribut des Gottes.