Renate Solbach: Camera inversa | Klytämnestras Gefangene 3/2
Die Schlange als Hüterin des Wissens. Noch war Erkenntnis keine Sünde. Taube Ohren sind taub für Leid und Glück. Glück ist Wissen: um das, was man in Händen hält und darum, wie man es bewahrt.
Eine merkwürdige Vorstellung, die Rückführung der Sehergabe auf die Reinigung des inneren Ohres, auf geistige Hellhörigkeit. Warum heißt es bei uns Sehergabe, wenn das Hören die Sinneswahrnehmung ist, die dafür prädestiniert? Nach C. G. Jung entspricht das einer altsumerischen Auffassung, die nicht im Gesicht, sondern im Gehör das eigentlich geistige ›Sinnesorgan‹ des Menschen erblickt. Dabei scheint die Welt sich erst einmal in Bildern zu erschließen, die sich ins Innere senken. Geht es darum, auf Worte hören zu lernen, die den Sinn der Bilder bestimmen, den Schein durchdringen, sie im Durchgang wandeln und dabei innere Stimmen erzeugen, denen man vertrauen lernen muss? Den ›Weg bahnen‹ hieße dann: den mit der Gabe Behafteten auf die innere Stimme zu verpflichten, frühe Erfahrungen mit dem trügerischen Schein der Welt umzusetzen, die Zeichen angemessen zu deuten. Aber der beschriebene Vorgang – das Auslecken der Ohren durch die Schlangen – wurde gleichgesetzt mit der Erlangung der Gabe. Wessen Worte waren es auf die man dann hörte? Worte der Götter? Überkommene aus uralten Zeiten?
   © Acta litterarum 2009