Renate Solbach: Camera inversa | Klytämnestras Gefangene 4/1
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Sechs Tage saß Hannah nun schon an ihrem Notebook und schrieb auf, was ihre Erkundungsreise zutage brachte. Sechs Tage, die sie verändert hatten. Was auch immer ich an Erzählbarem in der Lage bin aus mir herauszusetzen, ich werde diesem Impuls folgen und mich den Gedanken und dem Text anvertrauen. Ich muss meinem Blick trauen lernen. Ein Blick, der Folge nicht Ursache des Fremdseins in der Welt ist, dem diese häufig in einem sehr wörtlichen Sinne gewaltsam ins Auge springt.
Hannah hätte auch Tagebuch führen können. Die Zeit ist daher die Form, mittelst welcher dem ursprünglich und an sich selbst erkenntnißlosen individuellen Willen die Selbsterkenntniß möglich wird. In ihr nämlich erscheint sein an sich einfaches und identisches Wesen auseinandergezogen zu einem Lebenslauf. Doch ging es darum, tägliche Vorkommnisse und Stimmungen festzuhalten? Das beste wäre, die Ereignisse Tag für Tag zu notieren. Ein Tagebuch zu führen, um klar zu sehen. Sich nicht die kleinste Kleinigkeit entgehen zu lassen, auch wenn sie völlig unbedeutend erschien, und vor allem: sie einzuordnen. Niederschreiben wie ich diesen Tisch sehe, die Straße, die Leute, mein Tabakpäckchen, denn gerade das hat sich verändert. Es war höchst fraglich, ob Notate im reinen Fortgang der Zeit im Stande waren, so etwas wie eine persönliche Geschichte zu formen. Dichtung ist jedoch etwas gar Vielfältiges. Denn was für irgendetwas Ursache wird, aus dem Nichtsein in das Sein zu treten, ist insgesamt Dichtung. Sie malte sich aus, den Text Satz für Satz weiter zu treiben und sich von ihm treiben zu lassen. Im Meer der Gedanken.
   © Acta litterarum 2009