Renate Solbach: Camera inversa
| Klytämnestras Gefangene 4/2
Sie war überzeugt, dass es so etwas wie ein ›natürliches Ende‹ geben werde. Die Zeichen sind untrüglich. Sie kramte in ihrem Gedächtnis. Die Fundstücke führten – wie so häufig in die Kindheit. Was
man Nachsinnen heißt, geht auf eine ausgegangene Erkenntnis. Vergessen
nämlich ist das Ausgehen einer Erkenntnis. Nachsinnen aber bildet statt
der abgegangenen eine Erinnerung ein und erhält so die Erkenntnis, dass
sie dieselbe zu sein scheint. Und auf diese Weise wird alles Sterbliche
erhalten, nicht so, dass es durchaus immer dasselbe wäre, wie das
Göttliche, sondern indem das Abgehende und Veraltende in ein anderes
Neues solches zurücklässt, wie es selbst war. In vielen
mythischen Geschichten haben Ereignisse der Kindheit einen wichtigen
Stellenwert, zeichnen den vom Schicksal bestimmten Weg vor, den es zu
realisieren gilt. Frühe Zeichen, die Spuren oder Narben hinterlassen.
Auf
Hannahs rechtem Oberschenkel befand sich so weit sie zurückdenken
konnte eine hässliche Narbe. Zeugnis einer Verbrennung, die sie sich im
Alter von zwei Jahren zugezogen hatte. Die Mutter hatte den Vorgang in
allen ihr zur Verfügung stehenden Varianten geschildert. Jedem, der es
hören wollte.