Renate Solbach: Camera inversa | Klytämnestras Gefangene 4/2
Sie war überzeugt, dass es so etwas wie ein ›natürliches Ende‹ geben werde. Die Zeichen sind untrüglich. Sie kramte in ihrem Gedächtnis. Die Fundstücke führten – wie so häufig in die Kindheit. Was man Nachsinnen heißt, geht auf eine ausgegangene Erkenntnis. Vergessen nämlich ist das Ausgehen einer Erkenntnis. Nachsinnen aber bildet statt der abgegangenen eine Erinnerung ein und erhält so die Erkenntnis, dass sie dieselbe zu sein scheint. Und auf diese Weise wird alles Sterbliche erhalten, nicht so, dass es durchaus immer dasselbe wäre, wie das Göttliche, sondern indem das Abgehende und Veraltende in ein anderes Neues solches zurücklässt, wie es selbst war. In vielen mythischen Geschichten haben Ereignisse der Kindheit einen wichtigen Stellenwert, zeichnen den vom Schicksal bestimmten Weg vor, den es zu realisieren gilt. Frühe Zeichen, die Spuren oder Narben hinterlassen.
Auf Hannahs rechtem Oberschenkel befand sich so weit sie zurückdenken konnte eine hässliche Narbe. Zeugnis einer Verbrennung, die sie sich im Alter von zwei Jahren zugezogen hatte. Die Mutter hatte den Vorgang in allen ihr zur Verfügung stehenden Varianten geschildert. Jedem, der es hören wollte.
   © Acta litterarum 2009