Renate Solbach: Camera inversa | Klytämnestras Gefangene 5/1
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Man nimmt an, die Identität der Person beruhe auf der des Bewusstseyns. Versteht man aber unter dieser bloss die zusammenhängende Erinnerung des Lebenslaufs; so ist sie nicht ausreichend. Wir wissen von unserm Lebenslauf allenfalls etwas mehr, als von einem ehemals gelesenen Roman; dennoch nur das Allerwenigste. Die Hauptbegebenheiten, die interessanten Scenen haben sich eingeprägt: im Uebrigen sind tausend Vorgänge vergessen, gegen einen, der behalten worden. Hannahs andere Großmutter wohnte nach dem Krieg eine Reihe von Jahren in einem  Behelfsheim in einem Ort in Westfalen, in den sie mit ihrer Tochter gezogen war, nachdem Bomben das Heim in der Großstadt zerstört hatten. Die Gründe für die Wahl des Ortes hatte Hannah von ihrer Mutter nie erfahren können. Der Schleier des Geheimnisses war darüber gebreitet.
An der Rückseite des kleinen Holzhauses erstreckte sich ein schmaler Garten, der – durch keinen Zaun geschützt – in einen steilen Hang abfiel. Dicht überwuchert mit Pflanzen, die sie nicht kannte, zog er Hannah unwiderstehlich an. Wann immer sie hinunterblickte, ging ihr – wie man zu sagen pflegt – das Herz auf. Das für Blicke undurchdringliche, tief satte Grün erzeugte wilde Freude und Lebensgier. Kopfüber sich hineinstürzen in diese Pracht. Der Wunsch wurde zuzeiten übermächtig, allen Mahnungen der Mutter zum Trotz, die ihr unverständlich blieben.
   © Acta litterarum 2009