Renate Solbach: Camera inversa
| Klytämnestras Gefangene 5/2
Hannah
erinnerte sich sehr genau an den Tag, an dem sie ihren Wunsch wahr
werden ließ. Es war ein strahlender Sommertag. Mutter und Großmutter
hatten sich zum Mittagsschlaf niedergelegt und Hannah ermahnt, leise zu
sein und nicht hinauszugehen. Die Knopfkiste der Großmutter, der
unermüdlich durchforstete Schatz kindlicher Spiele, entbehrte an diesem
Tag jeder Verlockung, konnte die Verheißungen nicht überbieten, die von
der hell und warm scheinenden Sonne und dem sich leise im Wind
wiegenden Garten ausgingen.
Vorsichtig schloss Hannah die Tür und
trat hinaus. Für Minuten stand sie am Rande des Gartens und blickte
gierig in das leuchtende Grün. Dann hielt es sie nicht länger. Sie ging
in die Hocke und ließ sich den Abhang hinabkugeln. Mitten in einem
ausgedehnten Grünfeld am Fuße des Hanges blieb sie liegen. Die Pflanzen
umschlangen sie warm und ein wenig rau. Freudige Erregung durchströmte
Hannah. Sie wälzte sich hin und her wie ein Tierchen. Der Umschwung
geschah jäh. Innerhalb von Sekunden stand sie in Flammen. Ihr ganzer
Körper brannte. Sie war in einem Feld von Nesseln gelandet,
Brennnesseln. Ihr herzzerreißendes Geschrei ließ die Großmutter
herbeieilen. Sie trug das inzwischen nur noch wimmernde Mädchen ins
Haus. Sein Körper war über und über mit kleinen weißen Blasen bedeckt.
Sie rieb Hannah mit einer Salbe ein und packte sie ins Bett. Die Blasen
nässten, Fieber gesellte sich dazu. Hannah verlebte mehrere Tage in
einer Art Trance, durchsetzt von wirren, beängstigenden Träumen. Die
Haut heilte rasch. Das Ganze hinterließ keinerlei sichtbare Narben oder
Spuren. Hannah hatte jedoch eine Verwandlung erfahren.
Abenteuerlust und Lebensgier erfuhren einen merklichen Dämpfer. Die
Erwachsenen, Mutter und Großmutter allen voran, kommentierten die
Veränderung mit Sätzen wie Wer nicht hören will, muss fühlen.