Renate Solbach: Camera inversa | Klytämnestras Gefangene 6/1
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Am frühen Morgen erreichen Agamemnons Schiffe Nauplia, den heimatlichen Hafen. Stolz und aufrecht schreitet Kassandra den steilen Weg nach Mykene empor. Mit der Rechten rafft sie ihr langes Gewand, das das Majestätische ihres Ganges wirkungsvoll unterstreicht, gleichwohl ihre Schritte behindern könnte. In der Linken hält sie ein unscheinbares, blauschwarz marmoriertes Buch, das sie über alle Wechselfälle ihres Lebens gerettet hat. Scribe, Sibilla! Die ersten Schritte auf fremdem Boden. Verständigungsprobleme scheint es keine zu geben. Der Chor zumindest versteht sehr genau, wovon Kassandra spricht, als sie ihren Vermutungen freien Lauf lässt, sich sogar in erläuternde Auseinandersetzungen mit ihm verstrickt.

Chorführer: Scharfwitternd scheint die Fremde, einem Jagdhund gleich / Zu sein, spürt – beim Suchen, wen er traf, den Mord.
Kassandra: Durch Zeugen – diese dort – wird mir Beweis genug: / Aufweinend – die Kinder – geschlachtet –     und – Stück Fleisch / – gebratne – von dem Vater – aufgespeist!!
Chorführer: Fürwahr, von deinem Seherruhm hörten gewiss / Wir längst; doch sind Propheten fehl am Platz bei uns.

Der Chor weiß von ihrer Gabe, von ihren Prophezeiungen will er nichts wissen. Sie scheint in die Zukunft zu schauen.
   © Acta litterarum 2009