Renate Solbach: Camera inversa | Klytämnestras Gefangene 5/4
Hannahs Lebenslust berauschte sich an Lektüren. Die wahren Abenteuer sind im Kopf, in deinem Kopf und sind sie nicht in deinem Kopf, dann sind sie nirgendwo. Nicht ungefährlich, aber im Großen und Ganzen befriedigender. Mich betrog min buch nie. Der Vorwurf der Nüchternheit und Kälte, den ihr das einbrachte, verunsicherte sie nur geringfügig. Sie lehnte es forthin ab, aus dem Bauch heraus zu leben, wie es Authentizität einfordernde Lebensverfechterinnen als Credo propagierten. Die haben keine Ahnung! Wie ich mich sehne nach der Berührung durch die Sonne, die ersten Blicke auf frisches sattes Grün. Frühlingsluft einatmen, den Gedanken nachhängen. Nicht Vermengung jedoch, sondern Distanz im Eingestimmtsein. So war sie gegen die meisten auf- und abflauenden Moden redlich gefeit. Sie entlockten ihr allenfalls ein paar ironische Reden. Ruhe vor den Mitmenschen brachte ihr eine solche Haltung nicht, denn ungestraft tanzt man nicht aus der Reihe, schon gar nicht aus dem ›Chor der Weiber‹.
   © Acta litterarum 2009