Renate Solbach: Camera inversa | Klytämnestras Gefangene 7/1
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Hannah reiste gerne, doch sie erreichte das Ziel stets später als andere. Es dauerte eine Weile, bis sie innerlich angekommen war. Diese Reise aber war von andrer Art, zudem mit ungewissem Ausgang. Nicht, dass es kein Ziel gab. Es konnte erst durch die Zurücklegung des Weges sich abzeichnen und gewonnen werden. In sprechender Verbindung dazu stand die langsam gereifte Gewissheit, die sich dem willentlichen Zugriff immer wieder entzog und – unwirklicher als eine Fata Morgana – die Ängste und Zweifel ihr unbeirrtes, nicht zu beruhigendes Spiel treiben ließ: kleine Wolken am blauen Himmel.
Vor drei Jahren oder ein wenig mehr – die Bestimmung von Zeitspannen bereitete Hannah ähnliche Schwierigkeiten, wie die Verortung von Gegenden oder Städten – hatte sie auf einer längeren Zugfahrt ihr Notizheft herausgeholt und ihre Gedanken, die alles mögliche umkreisten, festgehalten. Der Impuls hatte sie überrumpelt und wirkte verändernd und einschneidend nach. Früher hatte sie versucht, durch die gedankliche Vorwegnahme des Ziels, das Ausschmücken der erwarteten Ereignisse und Skizzen möglicher Gespräche, das Gefühl des Unterwegs-Seins auszulöschen und die Ungeduld zu beruhigen. Ein Versuch, der selbstredend nicht gelang, nicht gelingen konnte. Diesmal war es anders. Sie befand sich auf dem Weg zu einem seit längerem verabredeten Rendezvous. Ein Mann, der sie heftig umwarb. Sie war aufgeregt und in freudiger Erwartung des Kommenden. War es die Bewegung des Zuges – es war ihre erste Fahrt in einem ICE –, war es eine Bewegung in ihrem Inneren? Ganz plötzlich spürte sie, dass sie im Begriff war, einem unverzeihlichen Irrtum zu erliegen.
   © Acta litterarum 2009