Renate Solbach: Camera inversa
| Klytämnestras Gefangene 7/1
7
Hannah
reiste gerne, doch sie erreichte das Ziel stets später als andere. Es
dauerte eine Weile, bis sie innerlich angekommen war. Diese Reise aber
war von andrer Art, zudem mit ungewissem Ausgang. Nicht, dass es kein
Ziel gab. Es konnte erst durch die Zurücklegung des Weges sich
abzeichnen und gewonnen werden. In sprechender Verbindung dazu stand
die langsam gereifte Gewissheit, die sich dem willentlichen Zugriff
immer wieder entzog und – unwirklicher als eine Fata Morgana – die
Ängste und Zweifel ihr unbeirrtes, nicht zu beruhigendes Spiel treiben
ließ: kleine Wolken am blauen Himmel.
Vor drei Jahren oder ein
wenig mehr – die Bestimmung von Zeitspannen bereitete Hannah ähnliche
Schwierigkeiten, wie die Verortung von Gegenden oder Städten – hatte
sie auf einer längeren Zugfahrt ihr Notizheft herausgeholt und ihre
Gedanken, die alles mögliche umkreisten, festgehalten. Der Impuls hatte
sie überrumpelt und wirkte verändernd und einschneidend nach. Früher
hatte sie versucht, durch die gedankliche Vorwegnahme des Ziels, das
Ausschmücken der erwarteten Ereignisse und Skizzen möglicher Gespräche,
das Gefühl des Unterwegs-Seins auszulöschen und die Ungeduld zu
beruhigen. Ein Versuch, der selbstredend nicht gelang, nicht gelingen
konnte. Diesmal war es anders. Sie befand sich auf dem Weg zu einem
seit längerem verabredeten Rendezvous. Ein Mann, der sie heftig umwarb.
Sie war aufgeregt und in freudiger Erwartung des Kommenden. War es die
Bewegung des Zuges – es war ihre erste Fahrt in einem ICE –, war es
eine Bewegung in ihrem Inneren? Ganz plötzlich spürte sie, dass sie im
Begriff war, einem unverzeihlichen Irrtum zu erliegen.