Renate Solbach: Camera inversa
| Klytämnestras Gefangene 8/1
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Kassandra
hatte sich in das Schlafgemach des Hauses zurückgezogen, das Agamemnon
ihr und ihrer Dienerin, eine der gefangenen Troierinnen, zugewiesen
hatte, um sie vor der Zudringlichkeit der Mykener und vor den
Nachstellungen Klytaimnestras zu schützen. Die junge Frau und Kassandra
waren sich auf dem Schiff nähergekommen, nachdem es Kassandra gelungen
war, die Scheu zu durchbrechen, die jene ihr gegenüber an den Tag
gelegt hatte.
Es war die Stunde der Dämmerung. Die Zeit des
Tages, die Kassandra liebte, da sie ihr erlaubte, unbehelligt von den
Geschehnissen der Welt, unbehelligt auch von ihren Gesichten, den
Gedanken nachzuhängen. Misbe, die Dienerin, nahm zu dieser Stunde ihren
täglichen Ausgang. Sie traf sich an einem Ort, den sie Kassandra nie
verriet, die auch nie nachfragte, mit den Frauen, die ihr Schicksal
teilten. Gelegentlich schien es dabei zu harmlosem Geplänkel mit
vorbeieilenden mykenischen Männern zu kommen. Eher verstohlen,
andeutungsweise. Keine dieser jungen Frauen wollte unangenehm
auffallen. Misbe berichtete Kassandra ausführlich von ihren Gesprächen.
Sie schienen ihr Halt und Kraft zu geben, die ungewohnte, sicherlich
als erniedrigend empfundene Situation zu ertragen. Agamemnon kehrte zu
dieser Stunde, nach den nachmittäglichen Gesprächen, nach der Stillung
der körperlichen Begierde, die die griechische Sonne jeden Tag neu aufs
Heftigste entflammte, in den Kreis seiner Familie, wie er es höhnisch
lächelnd nannte, zurück.