Renate Solbach: Camera inversa
| Klytämnestras Gefangene 9/1
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Mykonos.
Mit Freunden des Freundes in einem griechischen Lokal. Es war einer der
ersten schönen Tage des Jahres gewesen, aber noch nicht hinreichend
warm, um im Freien zu sitzen. Hannahs Blicke hefteten sich während des
Essens und des ein wenig bemühten Gesprächs immer häufiger an die
Bilder, die die im mediterranen Stil gekälkten Wände schmückten. Nichts
Besonderes. Kitschige, aufgeblasene Postkartenmotive, die griechische
Atmoshäre herbeizaubern sollten. Azur und strahlendes Weiß, die
nächtlich angestrahlte Akropolis. Seit ihrer Begegnung mit Kassandra
hatte sich in Hannah allmählich der Wunsch geformt, selber einmal in
das Land der antiken Sagen und Mythen zu reisen. Hannahs Schwester und
deren Mann besaßen früher ein kleines Haus auf einer der
Kykladeninseln. Wie oft hatten sie Hannah eingeladen, dort den Urlaub
mit ihnen zu verbringen. Aber damals gab es keinen Grund für diese
Reise. Damals war Italien der Zahir, das Land ihres Begehrens gewesen.
Von
diesem Griechenland, seinem Licht, der Landschaft, den Menschen musste
Agamemnon – ungeduldig und doch zögernd die Heimkehr erwartend –
Kassandra in den nächtlichen Stunden auf dem Schiff erzählt haben.
Trotz böser Vorahnungen hatte sie sich gefreut, das Land mit eigenen
Augen zu erblicken, gemeinsam mit Agamemnon den Boden seiner Heimat zu
betreten. Doch ach, da war diese andere, seine Frau, Klytämnestra. Ihre
gemeinsamen Erinnerungen aus vergangenen Zeiten. Sie waren in den
Anblick Mykenes eingegangen. Dieses Land war für ihn unlöslich mit
Klytaimnestra verbunden.