Renate Solbach: Camera inversa
| Klytämnestras Gefangene 10/1
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Nach
unseren Vorstellungen war Kassandra noch sehr jung, als sie in den
Tempel gebracht wurde, um eine Ausbildung zur Seherin zu erhalten. Sie
war gerade dreizehn geworden. Eine schlimme Zeit. Ihre Versponnenheit,
die hochfahrenden, sehnsüchtigen Ideen, ihre Träume riefen den Spott
der anderen hervor. Die Priester – ein blasiertes und zynisches Gezücht
– jagten ihr Angst ein. Von damals her muss sich das Gerücht erhalten
haben, Kassandra meide die Männer. Auf der anderen Seite stellten sie
ihr nach, lobten ihr Äußeres, verbreiteten sich anerkennend und doch
auf eine Weise abschätzig, die sie nicht zu fassen bekam, über ihre
›ach so verständige Rede‹. Kassandra selbst empfand sich als ungelenk,
tageweise hässlich. Sie war hochgewachsen, hatte einen blassen Teint
und diese Flut roter, schwer zu bändigender Haare, die herausstach aus
der Schar der schwarzhaarigen Schönen, die so zierlich und gewandt
wirkten.
Drei Monate lebte Kassandra schon hier mit den anderen
Mädchen, mit den Priestern, mit Bereneike, ihrer Ausbilderin, einer
betagten, aber immer noch anziehenden Frau. Man munkelte, Bereneike sei
in ihrer Jugend geraubt worden, entstamme dem angesehenen,
hochstehenden Geschlecht eines fernen Landes.