Renate Solbach: Camera inversa | Klytämnestras Gefangene 11/1
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Fürwahr mein Wahrspruch wird nicht mehr aus Schleiers Hüll / Hervor mir spähn,         der neuvermählten Gattin gleich. / Voll Klarheit soll – ein Wind – gen Sonnenaufgang er / Erbrausend springen...

Die Worte, Kassandras Worte aus Aischylos Orestie führten – nachdem sie ohne Vorankündigung in Hannahs Bewusstsein aufgetaucht waren – ein munteres Eigenleben.
Der Schleier? War das Liebe oder Ahnungslosigkeit? Der verhüllte Blick: weich, unscharf, ungenau. Die Binde vor Amors Augen!  Ein uraltes Bild: Liebe macht blind. Stimmte das? Amor, das spielende Kind, unerwachsen wie die Verliebtheit. Die Binde hatte er umgelegt, damit er nicht sah, wen er mit seinem Pfeil traf. Das war wohl eine Gaudi, wenn er die Blicke der langsam Erwachenden beobachtete. Hannah deutete wie immer hemmungslos. Alle Welt rannte dem Gefühl der Verliebtheit hinterher, versuchte es solange wie möglich zu konservieren, denn das Erwachen schien grausam und die Enttäuschung immer wieder maßlos.
Waren Verliebtheit und Liebe dasselbe? Jede Kleinigkeit in ihrem Leben nahmen die Menschen ernst, den Hausbau, das Auto, die Urlaubsreise, bei der Wahl des Gefährten aber, mit dem sie durchs Leben gehen wollten, verhielten sie sich wie kopflose Kinder. Rannten einem Kick hinterher, opferten reichlich auf dem Altar des ewig Neuen.
   © Acta litterarum 2009