Renate Solbach: Camera inversa | Klytämnestras Gefangene 11/2
Hannah seufzte mal wieder, Grund dazu hatte bei diesem Thema wohl jede(r). Einem gelang es, – er hob den Schleier der Göttin zu Sais – Aber was sah er? Er sah – Wunder des Wunders, sich selbst. Was war ›wirkliche‹ Liebe? Ist wahre Liebe nicht auch Liebe zur Erkenntnis? Für Hannah gehörten die beiden zusammen. Man muss sich nie gestehen, dass man sich selbst liebt – das Geheimnis dieses Geständnisses ist das Lebensprinzip der wahren und ewigen Liebe. Da hinein gehörte auch das schwierige Thema der selbstlosen Liebe mit all seinen ambivalenten Aspekten. Wie soll man sich selbst lieben oder von anderen geliebt werden, wenn man kein Selbst hat? Liebe ist Flucht vor der Wahrheit. Wirklich lieben wir nur, wenn wir die Wahrheit verschmähen. Liebe wider Wahrheit ist ein Kampf für das Leben, für die eigenen Ekstasen und Irrtümer. Das geliebte Wesen erkennen wir nur dann wirklich, wenn wir es nicht mehr lieben, wenn wir scharfsinnig nüchtern, hohl und leer geworden sind. Konnte man einen Menschen nur lieben, wenn man sich die Wahrheit über ihn verschwieg? Welche Wahrheit? Einen Menschen lieben hieß für Hannah, ihn und sein Denken zu erkunden, zu erkennen und achten zu lernen. Vertrauen und Achtung, das vor allem. Vielleicht war es wie in der Physik, ein Phänomen, in diesem Fall der geliebte Mensch, erschien dem Auge des Betrachters so, wie er es anschaute: als Welle oder Teilchen. Es war aber beides. »Famos, ich verstehe dich«, meinte Ghita, »im Augenblick, wo man anfängt, sich mit einer Frau zu beschäftigen, sieht man sie nicht mehr so, wie sie wirklich ist, sondern so, wie man sie haben möchte.«
   © Acta litterarum 2009