Renate Solbach: Camera inversa | Klytämnestras Gefangene 12/1
12
Weißt du, ein Mann wird immer in Fremdland hineingeboren. Er ist weit entfernt von seinesgleichen. Er kommt aus dem Fruchtwasser der Frau, trinkt ihre Milch, aber er ist ein Fremder. Am Anfang steht er ganz allein in der Welt, die nicht die seine ist und in der er sich leicht verliert. Er hat kein Vorbild, er muss alles aus sich selbst schöpfen, nur in sich selbst wird er das Sprungbrett finden, das ihn mit anderen Männern zusammenbringt, einer Horde von Einsamen. Aus dieser Fremdheit kommt die Tücke der männlichen Kraft, ihr entspringen die Gesetze, die Kriege, die Grenzen; sie ist schuld an dem Wunsch die Welt aus der sie kommen zu vernichten: die Welt ihrer Mutter, die Welt der Frauen, die erschreckende Welt der ungewissen Öffnungen. Die Männer sind unsicher, sie versuchen sich Mut zu machen, das ist alles. So erklärte die Autorin – Hannah hatte das Buch bei einem schon länger zurückliegenden Besuch im Bücherschrank der Schwester gefunden – sich und ihren Leserinnen in Selbstgespräch mit Klytaimnestra die Welt, deren Wesen ihr durch den Abgrund zwischen den Geschlechtern geprägt zu sein schien. »So ein Blödsinn. Überhaupt, sich über das Geschlecht zu definieren.« Hannah verzog ein wenig verächtlich die Mundwinkel und legte die Stirn in Falten. Sehnender Glanz trat in ihre Augen. Gemeinsam hinaus aufs Meer sehen. Ein uralter Traum! Die Differenz zwischen den Individuen insgesamt empfand sie als eine viel größere. Sind wir nicht alle fremd hier? Die Vertrautheit mit der Welt ist wohl das Befremdendste überhaupt.
   © Acta litterarum 2009