Renate Solbach: Camera inversa
| Klytämnestras Gefangene 12/2
Die Fremde... Klytämnestra...,
der Name jagte Hannah einen Schauer über die Haut. Wieso fiel er ihr
gerade jetzt ein? Die Erinnerung streifte die zurückliegenden Tage. Wie
ein Brandzeichen hatte sich die erzwungene, von ihr nicht im Geringsten
vorausgeahnte Begegnung mit der Anderen – sie benutzte nie den ihr
wohlbekannten Namen – in ihr Empfinden gefressen. Es schmerzte in der
Brust. Klytämnestra... Warum hassten
so viele Frauen ihre Männer, versuchten sie zu demütigen? Gute Gründe
fanden sich immer. Dabei war es nur eine Frage der Interpretation, eine
Sache des Diskurses, den man verfolgte, wie das Bild sich
zusammensetzte. Sie schüttelte unwillkürlich den Kopf, die
Wissenschaft wurde man nicht los, so wenig wie die Leidenschaft zur
Literatur, wenn sie einen einmal am Wickel hatte. Wie
viele Männer mochten dieser perfiden Ideologie zum Opfer fallen, die
den Frauen auch nicht nützte. Im Gegenteil... Frauen sind besser! Was?
Bessere Menschen? Sie fuhr sich mit der Rechten durch das Haar,
presste es dabei eng an ihren Kopf, als wollte sie die Form des
Schädels ertasten. Nicht die Person
war gemeint, nein das andere, das fremdgewordene Geschlecht, das
plötzlich (oder vielleicht aus Gründen?) zum Sündenbock für alles und
jedes erkoren worden war. Das hatte mit Feminismus nicht das Geringste
zu tun...
Hannah fuhr über die Autobahn gen Norden. Die
Hügelketten am Horizont waren an ihren Rändern von einem überirdischen
Leuchten ergriffen, teilten das Licht mit dem von abendlicher Sonne und
Regen durchmischten Himmel. Nebelfelder stiegen als wallende Schleier
empor und entrückten die vertraute Landschaft. Verwandelten sie in ein
Gemälde, das von fernen, unfasslichen Dingen berichtete. – Entrücktheit, ja, das wäre das richtige, ...das richtige Wort.