Renate Solbach: Camera inversa | Klytämnestras Gefangene 12/3
Ein plötzliches Verlangen, nicht weiter der Straße zu folgen, sondern ihr Auto mitten in die Nebelfelder zu lenken, überfiel Hannah. Neu war es nicht, dieses Verlangen. Auf späten, einsamen Fahrten über Brücken, die sich weit über dämmrige Täler schwangen, war es ihr schon des öfteren widerfahren. Was sie zurückhielt, sie bewegte, sich weiter der asphaltierten Bahn anzuvertrauen, war die Vorstellung vom Aufprall. Sie löschte jede Empfindung aus. »Geh zum leukidischen Felsen, stürze dich mutig hinab!«
Ein Prickeln ließ ihren Körper erschauern. Myriaden kleiner Blasen, die vom ›Grunde ihres Seins‹ aufstiegen, die Bedrückungen der letzten Zeit nach oben trugen und mit diesen an der Haut zerplatzten. Unvermutete Leichtigkeit machte sich breit, wiegte die Gedanken. Sie würde die kommende Zeit angemessen überstehen. Warum auch nicht? Was waren schon ein paar Wochen? Eine manchmal endlos erscheinende Zeit! Sie würde endlich den Essay schreiben, der bereits so lange anstand. Ein Essay ist die einmalige und unabänderliche Gestalt, die das innere Leben eines Menschen in einem entscheidenden Gedanken annimmt.
Sie dachte, wie so häufig, an ihren alten Lehrer. Die engsten Vertrauten in ihrem Leben waren Männer gewesen, Männer deren Lebensentwurf und Vorstellungen von der Welt solche Zuschreibungen eo ipse lächerlich erscheinen ließen. Inzwischen muss er wirklich alt sein. In einer Gesellschaft, die vom Jugendlichkeitswahn beseelt war, ein Faktum, das einen Menschen ins Abseits stellte. Doch was scherten sie die Moden der Masse.
   © Acta litterarum 2009