Renate Solbach: Camera inversa
| Klytämnestras Gefangene 12/4
Alter schien ihr das
Versprechen eingelöster Dauer und Weisheit. Alt in diesem ihr positiven
Sinne konnte nur jemand werden, der sich dem Anspruch des Lebens, den
Vorstellungen und Wünschen, die er an es hatte, stellte. Der in einem
nicht abreißenden Akt immer neuer Vergewisserung und Arbeit seinem Ziel
– sei es noch so unausgesprochen oder im Sinne der Gesellschaft, des
Betriebes bizarr – unter Mühen und Zweifeln jeden Tag ein Stückchen
näherzurücken versuchte. Wer alt war, war den anderen davongesegelt.
Die Vorstellung erschien ihr so tröstlich wie die einer alten Liebe.
Bei diesen Worten durchzog eine große Zärtlichkeit ihr Fühlen und
Denken: eine alte Liebe, eine Liebe von großer Tiefe und Dauer. Eine
alte Liebe konnte auch eine sein, die, bereits ein Leben lang gehegt,
sich erst spät einstellte oder erfüllte. Die
alte, sentimentale Liebe war eine Verwandtschaft der Seelen und eine
Harmonie ihrer Ahnungen. Das unbegreifliche Etwas, so wenig zu fassen
wie Kants ›Ding an sich‹. Voller Sehnsucht dachte Hannah an ihre
alte Liebe, die, noch reichlich jung, in Anbetracht der nun wahrlich
nicht mehr unabsehbaren Lebenserwartung eine wirkliche alte Liebe
werden könnte, wenn, ja wenn... Sie verbat sich in diesem Moment jeden
weiteren Gedanken. Die Zukunft war ebenso unauslotbar wie die
Vergangenheit. Alle Versuche, ihr in die Karten zu schauen, erzeugten
nur unfruchtbare und schmerzliche Grübeleien.
Bedauerlich! Das
Alter würde Kassandra nie kennenlernen. Dafür hatte Klytämnestra
gesorgt. Und auch Agamemnon musste bei seinem Tode das gewesen sein,
was man heute einen Mann in den besten Jahren nannte.