Renate Solbach: Camera inversa | Klytämnestras Gefangene 13/1
13
Hannah und ihr Freund – bei sich nannte sie ihn nur den Mann ohne Eigenschaften, erschien er ihr zuweilen doch eher als Möglich- denn als Wirklichkeit, so unvermutet war er eines späten Tages in ihr Leben getreten und hatte alle vermeintlichen Sicherheiten sich wohltätig verflüchtigen lassen, ohne dafür einen anderen Ersatz zu schaffen, als die ›Freiheit des Denkens‹ und die Festigkeit eines tiefen Gefühls – nahmen an dem kleinen Tisch Platz, den der Kellner des italienischen Restaurants, in dem sie sich trafen, ehe er zu seiner Reise aufbrach, ihnen zugewiesen hatte. Alles ist schön, wenn es vom Standpunkt des Geistes, das heißt, als Wahrheit betrachtet wird. Alles ist kümmerlich, wenn man es vom Standpunkt der Erfahrung betrachtet. Alle Musen singen in der Runde; aber Kummer haftet an Namen, an Personen, an kleinen Interessen von heute und gestern. Aus Morgen und Nacht einen stets wechselnden Zauber machen! Hannah befand sich in einem Zustand heftiger Erregung, der kleine Wellen eines vergeistigten Unwohlseins durch ihren Körper spülte. Der Kopfschmerz, der sich prompt einstellte, setzte sich zur Ruhe. Die nächsten Wochen sollte er sie nicht mehr verlassen. Ein dumpfer Mahner, der alles grundierte. Überdies war sie zornig, doch dem Zorn gelang es nicht, sich zu materialisieren, sich in Vorwürfen Raum und Luft zu schaffen und sich auf diese Weise zu verbrauchen. Sie dachte an ihre Abmachung. Sie musste seine Beweggründe erfahren. Er funktionierte anders als die anderen Männer, die sie kannte. Vorsicht war geboten. Sie wollte ihn nicht verletzen. Ein ehrliches Missverstehen des Gefühls scheint wunderbar allgemein zu sein.
   © Acta litterarum 2009