Renate Solbach: Camera inversa
| Klytämnestras Gefangene 14/1
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Kassandra
verbrachte einige Jahre in der Tempelanlage am Fuße des Idaberges, ehe
ihre Ausbildung durch die Weigerung, sich mit dem nächtlich
erschienenen Apoll zu vereinigen, abrupt beendet wurde. Insgeheim
verdächtigte sie Euralyos, denjenigen aus der Schar der Priester, der
ihr am meisten zugesetzt hatte, sowohl durch seine Reden wie auch durch
die brennenden Blicke seiner tiefschwarzen Augen, dass er das
nächtliche Dunkel und den Schimmer des Geheimnisses, der Kassandras
Reden umgab – sie hatte es sich nicht völlig versagen können, von ihren
›Treffen‹ mit Apoll die ein oder andere Einzelheit auszuplaudern – sich
hatte zunutze machen wollen, um eine lang angestaute Begierde zu
befriedigen. Jedenfalls war er seit jener Nacht ohne ersichtlichen
Grund zu ihrem erbitterten Feind geworden. Er hatte sie bei ihrem
Vater, dem König, angeschwärzt: Sie versetze die Leute mit
aufrührerischen Reden in Angst und Schrecken.
Das
Zusammentreffen mit Apoll – ganz sicher war er es gewesen, dessen
Gesicht sich dem mittäglichen Blick im Zentrum des Flimmerfeldes
gezeigt hatte – wiederholte sich nach jener ersten Flucht aus der
verordneten Mittagsruhe noch dreimal. Immer
muss es die zeitliche Distanz sein, das Gefühl des Vorbei, damit die
Dinge ihren Platz finden. Die Zeit ist ein schweigsamer Platzanweiser
im Kino unseres Bewusstseins, in dem wir zugleich das leere Gestühl und
die Leinwand stellen, zum Gaudium eines Publikums, das wir nicht
ausgesucht haben und das den Streifen, den man ihm vorsetzt, so gut wie
nie bis zum Ende verfolgt.