Renate Solbach: Camera inversa | Klytämnestras Gefangene 13/4
Hannahs Rede mäanderte weitschweifig durch die Begebenheiten der vergangenen Tage, verharrte bei dem ein oder anderen ungewöhnlichen Detail, unternahm kleine Ausflüge zu Gegenständen am Rande und kehrte immer nachdrücklicher zum Hauptstrom zurück. Andreas folgte dem Wortfluss wie ein zu Wasser gelassenes Papierschiff, das sich langsam vollsaugte. Die vom Wohlwollen geblähten Segel ergaben sich dem Atem der Rede. Mehrmals setzte eine leichte Stockung ein. Dem Zusammenhang entrissen und dennoch sanft in ihn eingebettet, stellte sie – von ihrer eigenen Vorgehensweise überrascht – Fragen, die sich auf die vorangegangene Situation bezogen. Andreas antwortete offen und prompt. Die Sätze drangen ihr unter die Haut, ohne jedoch ein Gefühl hervorzurufen. Augenblicklich verkapselten sie sich und harrten der Entschlüsselung, die Hannah mit Sicherheit vornehmen würde. Später. Allein.

Oh dieses Menschenleben!
Wenn es glücklich ist, kann ein Schatten es verwandeln.
Im Unglück
wischt ein feuchter Schwamm darüber
und das Bild, die Schrift verlöscht.
Mehr als alles andere schmerzt mich das Vergessensein.

In dem Maße, in dem Hannahs Teller sich leerte – sie nahm zwischen den Abschnitten ihrer Rede durchaus den ein oder anderen Bissen zu sich – entäußerte sie sich der Vorkommnisse und Arbeitsergebnisse, die Andreas gespannt erwartet hatte und die sich zu ihrer beider Zufriedenheit erwiesen. Ein Espresso, dessen schwarz-bittere Süße den entstandenen Hohlraum angenehm füllte, rundete das Essen ab. Unverrückbar sind die Dinge am Ende.
   © Acta litterarum 2009