Renate Solbach: Camera inversa
| Klytämnestras Gefangene 13/3
Sie senkte den Blick. Es
hätte eines energischen Entschlusses bedurft, zu dem sie sich aber
nicht durchringen konnte. Sei es aus Angst, ein Zittern der Stimme
könne sie verraten, sei es aus Furcht, unverständliche Laute zu formen
– der gewünschte Bericht blieb ihr wörtlich im Halse stecken. Mit einer
entschiedenen Bewegung rückte Andreas die Vase zur Seite, verschränkte
die Finger und schaute sie erwartungsvoll an. Der Weg war freigeräumt.
Die kleine Falte, die links über seiner Nasenwurzel unvermutet
einsetzte und sich schräg abfallend über diese hinweg in den
gegenüberliegenden Augenwinkel verlief, vertiefte sich. Ein Zeichen
innerer Spannung. Hannah schwieg noch immer. Ihr Blick irrte
haltsuchend über das Tischtuch. Es war der Kellner, der die Situation
auflöste. Momenthaft zumindest. Er brachte die Karte und lenkte die
anstehende Entscheidung auf die Auswahl der Speisen. »Zwei Wasser,
bitte!«
Hannah schlug die Karte auf. Nun irrte ihr Blick über die Seiten, von der Vorspeise zum Salat und den Fleischgerichten. »Ich
warte hier auf dich. Klingle, bitte! Du bist bereits angekündigt.« Die
Tür öffnete sich. Der Blick, der ihre Person abschätzend ins Visier
nahm, veranlasste Hannah die Hände in den Taschen ihrer Jeans zu
versenken. Sie verlagerte das Gewicht auf die Fersen und richtete sich
– auch innerlich – auf. Eine Haltung, die ihr mannhaft erschien und
Widerstandskraft suggerierte. Wie gut, dass sie Jeans trug! Minuten
später und doch eine kleine Ewigkeit kam er, lächelnd und mit fragendem
Blick. Die Großmutter hatte nach dem Krieg einen Freund. Er und das
Kind vor den Kaninchenställen in traulichem Gespräch. Seine Hand strich
sachte über den Kopf des Kindes. Eine zärtliche Geste, die das Band der
Erinnerung knüpfte. Wie flächig vage sein gütiges Gesicht in ihrem
Gedächtnis haftete. Die große, spät ins Leben getretene Liebe? –
»Was? Ja, ja, ist gut...« Andreas hatte inzwischen gewählt, wohl für
sie beide, und erheischte nun ihre Zustimmung. Er redete bis das Essen
aufgetragen wurde. Als er beruhigend seine Hand auf die ihre legte,
bemerkte Hannah, dass das Messer leise vibrierte. Entschlossen führte
sie einen Bissen zum Mund, senkte die Gabel und begann zu reden.
Zögernd erst, dann immer flüssiger.