Renate Solbach: Camera inversa | Klytämnestras Gefangene 15/1
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Nichts als das Meer auf allen Seiten, nichts als ein Steigen und Fallen!
Die man liebt wiederzusehen, wäre gut, aber das Vergessen ist besser:
Nur der erste Schluck ist schwer.

Kassandra hatte sich auf ihrer Liege ausgestreckt und hielt die Augen fest geschlossen. Die Erregung, die ihren Körper in Wellen durcheilte, beruhigte sich einigermaßen bei dem Gedanken, dass es ihrer Mutter durch den Tod, der sie – auf eigenen Wunsch, denn auch der Wille zu sterben kann töten, wenn er nur stark genug ist – noch rechtzeitig vor der Abfahrt der Schiffe ereilt hatte, erspart geblieben war, Odysseus als Sklavin folgen und die ihm zugedachte jahrelange Irrfahrt zu teilen. Und Aeneas, der enge Freund und Vertraute, war gerettet. Sie selbst hatte ihn bewogen, die Flucht in die Berge dem schmachvollen Heldentod vorzuziehen. Er würde viele der gemeinsam entwickelten Ideen und Vorstellungen über das Meer in die neue Heimat tragen, wie den Vater, den er so aufopferungsvoll geschultert hatte. Moralisches Verhalten war unter praktischen und lebensweltlichen Gesichtspunkten betrachtet oft genug töricht.
   © Acta litterarum 2009