Renate Solbach: Camera inversa
| Klytämnestras Gefangene 15/2
Misbe, die Dienerin,
sorgte sich um Kassandra, die ihr trotz aller Distanz in der letzten
Zeit fast zu einer Freundin geworden war. Nur selten noch verließ
Kassandra das Haus. Genau gesagt, seit dem offiziellen Festessen, das
Klytämnestra – man flüsterte allerlei über die Königin in den Straßen
Mykenes – im großen Thronsaal zu Ehren von Agamemnons Heimkehr hatte
ausrichten lassen. Auch Kassandra war geladen gewesen. So jedenfalls
hatte Agamemnon es gedeutet. Nie war sie Misbe so schön erschienen, wie
an diesem Abend. Sie hatte die Haare aufgesteckt, von einer schlichten
Fibel gehalten, das lange grüne Gewand angelegt, das Agamemnon ihr für
diesen Anlass bei einem seiner nachmittäglichen Besuche zum Geschenk
gemacht hatte. Ihre Füße steckten in Sandalen, sie trug keinerlei
Schmuck. Ihre Augen – die dunklen, von leiser Trauer umflorten
Diamanten – glänzten lebhaft, wie schon seit langem nicht mehr. Soviel
Kassandra Misbe sonst auch immer erzählt hatte, über diesen Abend
verlor sie nur ein paar nichtssagende Sätze. Seither war sie
nachdenklich und verschlossen. Auch heute hatte sie sich wieder in ihre
Kammer zurückgezogen. Vorsichtig öffnete Misbe die Tür und spähte in
den im Halbdunkel liegenden Raum. Kassandra schreckte hoch. »Ach, du
bist es. Lass mich allein. Ich muss nachdenken. Wenn ich etwas
benötige, rufe ich dich.« Ärger ließ ihr blasses Gesicht erröten. Jetzt
war sie selbst hier nicht mehr sicher vor Misbes neugierigen und
besorgten Blicken. Sie lehnte sich zurück und überließ sich erneut dem
Fluss der Gedanken. Nach einer Weile sprang sie auf, ging im Raum auf
und ab. Schließlich setzte sie sich an den kleinen Tisch, nahm die
Kladde zur Hand und blätterte darin. Noch einmal wollte sie die Stelle
lesen, die ihr Nachdenken in Gang gesetzt hatte. Sie musste einen
Entschluss fassen. Angst zu gehen, ohne im Gedächtnis der Menschheit
eine Spur zu hinterlassen, umschloss ihr Herz wie eine eiserne Zwinge.