Renate Solbach: Camera inversa | Klytämnestras Gefangene 14/3
Beim letzten Mal – sie hatte deutlich gespürt, dass es das letzte Mal war und die geheime Sehnsucht, die sie bis in den Tode begleiten würde, ergriff von ihr Besitz – lag nach ihrem ›Erwachen‹ die marmorierte Kladde auf dem Felsvorsprung. Nein, es war kein Wunder. Sie selbst hatte sie dorthin gelegt. Hekabe, die Mutter, hatte Kassandra die Kladde geschenkt, um die Träume darin festzuhalten. Aber sie war noch jungfräulich. Kassandra hatte oft versucht, ihre Träume zu erinnern, sie aufzuschreiben, doch sie zerrannen ihr ebenso uneingeholt wie sie gekommen waren. Spinnwebengleich ist der Stoff, aus dem die Träume sind. Nur aus der Ferne zu betrachten, denn die leiseste Berührung durch Menschenhand zerstört das Gewebe. Der Hand bleibt ein unentwirrbares Knäuelchen. Gedreht und gewendet entfällt es ihr schließlich und resigniert greift sie zum Tagesgeschäft. Und doch war es ein Wunder. Sie hatte Agamemnon bei ihren Gesprächen davon erzählt. Irgendwann hatte Kassandra die Zurückhaltung ihm gegenüber abgelegt, und zu erzählen begonnen. Nicht zusammenhängend und gleichbleibend. Sie holte mal die, mal jene Einzelheit ihres Lebens hervor. Er hatte sie verstanden. Er sagte nicht viel dazu. Sein Blick, die Arme, die sie nach der Erzählung umschlossen, waren beredter als Worte. Da wusste sie, es war Liebe, was sie beide umfing. Agamemnon war der einzige Mensch, der das Geheimnis der Kladde kannte, der wusste, dass sie seit jenem letzten Treffen mit Apoll nicht mehr leer gewesen war. Wann immer Kassandra die Kladde aufschlug und darin blätterte, las sie eine Geschichte. Ihr ganzes Leben las sie darin. Sie war verwundert, wieviel in so eine dünne Kladde hineinpasst. Niemals las sie etwas zweimal. Alles war immer neu und anders. Alles war vertraut und bekannt.
   © Acta litterarum 2009