Renate Solbach: Camera inversa | Klytämnestras Gefangene 14/2
Wann immer im Laufe ihres Lebens sie sich erinnerte – und sie ergab sich diesem Erinnern oft – fiel es ihr schwer, Charakter und Ablauf der Erscheinung zu analysieren und zu beschreiben. Mit der Wärme der mittäglichen Sonne senkte sich sein Blick in sie, hielt innige Zwiesprache mit jeder Faser ihres Körpers. Selbstbewusstsein und Wissen hielten Einzug. Sie flossen ihr so unbestimmt wie gewiss zu. Er hatte das Feuer der Erkenntnis entzündet. Nein, es war keine bestimmte Botschaft, die er Kassandra zukommen ließ. Analyse und Deutung selbst unbedeutender, anderen nichtig und unverständlich erscheinender Kleinigkeiten, weit in der Vergangenheit liegender Begebenheiten oder zukünftiger Ereignisse gelangen ihr nahezu mühelos, wenn sie sich nicht durch die Moden der Umgebung ablenken ließ, nur auf die innere Stimme hörte. Und wenn sie dort unter sich Ehre, Lob und Belohnungen für den bestimmt hatten, der das Vorüberziehende am schärfsten sah und am besten behielt, was zuerst zu kommen pflegte und was zuletzt und was zugleich, und daher also am besten vorhersagen konnte, was nun erscheinen werde: glaubst du, es werde ihn danach noch groß verlangen und er werde die bei jenen Geehrten und Machthabenden beneiden? Bei jedem der Treffen war es, als schwänden ihr alle Sinne und doch fühlte sie sich erfrischt und klar, als habe sie aus einem reinen Quell getrunken.
   © Acta litterarum 2009