Renate Solbach: Camera inversa
| Klytämnestras Gefangene 11/3
Seliges Missverstehen!
Mitnichten war der nicht mehr Liebende eher in der Lage, den nun nicht
mehr Geliebten wirklich zu erkennen. Viel zu häufig trübte in diesem
Stadium der Schleier des Hasses und der Verachtung den Blick. Der Blick
auf die Rückseite der Münze? Zu leicht verlor man den Wert aus dem
Auge. Die gängige Währung. Fehler verflüchtigen sich, ändern ihren Wert, ihre Bedeutung, wenn sie bekannt sind. Und: Fehler hatte sie selber genug.
Das
Auge soll die offene Pforte der Seele, diese aber der Sitz der
Erkenntnis sein. Also musste man nicht die Liebe, sondern liebend die
Erkenntnis lieben und sich möglichst mit einer Seele verweben, die
ebenfalls die Erkenntnis liebte und einen selbst. Also mich!
Liebe zur Erkenntnis hört nicht einfach auf, warum also sollte das
Verlangen, einen Menschen liebend zu erkennen, eines schönen Tages
einfach aufhören? Liebe zur Erkenntnis endet nur da, wo sie auf eine bestimmte
Erkenntnis aus ist. Stellt sich diese nicht ein, so greift die
Ernüchterung Raum. Endet die Liebe, so ist das Bild vom anderen falsch,
nicht er selbst. Die Rede vom Alltag aber, der ernüchternd wirke auf
die Liebe, meint nur die Verliebtheit. Ob das alles so stimmte und so
einfach war, wie es dem ersten Nachdenken erschien? Denn
die Liebe begnügt sich nicht damit, dass die Einheit der Natur auf
Gegensätzen ruht, sondern sie will in ihrem Verlangen nach zärtlicher
Gesinnung eine Einheit ohne Widerspruch. – O Gott! Apoll verlieh
dem Menschen die Fähigkeit der Erkenntnis, er war der Gott der bewusst
Sehenden, der Wissenden. Das Gut aber, mit dem er diese Menschen
beschenkt,e bedeutete Leid, ist die Wahrheit doch meist unverträglich.
Irgendein Gott musste immer herhalten – oder die Biologie – um die
nicht erklärbaren Anteile der Liebe zu erklären. Hatte man das
erreicht, war meist nicht nur das Geheimnis, sondern auch die Liebe
abhanden gekommen. Ein trauriger Anblick