Renate Solbach: Camera inversa | Klytämnestras Gefangene 10/2
Der Tempelbezirk bildete eine in sich geschlossene Welt am Fuße des Idaberges. Die einzige Verbindung nach außen stellten die Boten und Händler her, die Waren und sicher auch Nachrichten aus der Welt brachten, zu denen die Mädchen aber keinen Kontakt hatten, wenn sie sie überhaupt zu Gesicht bekamen. Und natürlich die Gläubigen oder wie immer man die nennen wollte, die aus der Stadt herbeieilten, um ihre Opfer zu tätigen, ihre Gebete zu verrichten, sich Rat oder Einblick in die Zukunft zu holen. Der Tempelbezirk war umgeben von einem dichten Hain aus Sykomoren, Pinien, Eukalyptusbäumen und Kuyas, der den Blick auf das tiefergelegene Troja verstellte.
Drei Monate waren es, die sich für Kassandra dehnten wie Jahre. Die in aller Frühe mit dem ersten Hahnenschrei begonnenen Tage unterschieden sich nicht oder nur geringfügig voneinander. Der Ablauf war streng geregelt. Die kühlen und in einem steten Halbdunkel gefangenen Gebäude hielten Kassandra in einer Art fröstelnder Dauerstarre. Im innersten Bezirk warfen die niemals erlöschenden Opferfeuer ihren flackernden Schein gegen die Wände. Sie ließen alles unwirklich und abgründig erscheinen und gaukelten den Verweilenden oder Vorübergehenden schattenhafte Bilder vor.
   © Acta litterarum 2009