Renate Solbach: Camera inversa
| Klytämnestras Gefangene 10/3
Es war zur
Mittagsstunde. Die Stunde des Tages, in der die Sonne am höchsten steht
und die Welt und die Köpfe der Menschen zu verbrennen droht mit ihrem
Feuer. Obwohl wenig von ihrem Licht und ihrer Wärme in den heiligen
Bezirk gelangte, waren die Mädchen angewiesen, sich um diese Zeit in
ihre Räume zurückzuziehen. Als Tochter aus königlichem Hause war es
Kassandra als einziger bestimmt, eine Ausbildung zur Seherin zu
erhalten. Die übrigen Mädchen würden ihr Leben lang niedere Dienste im
Tempel und bei den jährlich wiederkehrenden Feierlichkeiten zu Ehren
Apolls verrichten. Als einzige hatte Kassandra einen Raum für sich.
Eine schmale, rechteckige Zelle, die außer der Schlafliege nur wenige
Gegenstände enthielt, die sie aber als Hort und Zuflucht schätzte.
Es
war zur Mittagsstunde, und diesmal hielt es Kassandra nicht in ihrem
Zimmer. Sie hatte Sehnsucht nach Sonne, frischer Luft und ein wenig
Wärme. Unbemerkt von den anderen schlich sie sich hinaus, durcheilte
den Hain, der den Tempelbezirk umgab und den zu verlassen, ihnen streng
untersagt war. Nach einer Weile gelangte sie zu einem terassenförmigen
Felsvorsprung. Sie ließ sich auf den warmen Steinen nieder und rekelte
sich wohlig in der heißen Sonne. Kassandra hatte im Gegensatz zu den
weiblichen Wesen ihrer Umgebung, die um ihren Teint fürchteten, die
Sonne schon immer geliebt. Sie störten auch die vielen winzigen
Sprossen nicht, die der Sommer alljährlich auf Gesicht und Armen malte,
und die ihr ein neckisches Aussehen verliehen und Gesicht und Haarflut
farblich anglichen.