Renate Solbach: Camera inversa
| Klytämnestras Gefangene 9/2
Kassandras Heimat bot
gemeinsame Erinnerungen, doch solche von Schmach und Leid. Agamemnon
war beteiligt am Untergang der Welt, die ihre Heimat gewesen war, zu
der sie nie ganz gehörte, ohne die zu leben, sie sich dennoch kaum
vorstellen konnte. Wie geblendet hatte Kassandra zum Idaberg
hinaufgeschaut, als sie nach dem furchtbaren Gemetzel im Tempel, das
die Zerstörung der Stadt eingeläutet hatte, ins Freie trat. Ein
riesiges Feuer loderte dort, als stünde der Berg in Flammen. Später, im
Lager der Griechen, brachte sie in Erfahrung, dass Agamemnon den Befehl
gegeben hatte, es zu entzünden. Ein Freudenfeuer? Botschaft in die
Heimat? Immer wieder hatte sie es hinausgeschoben, ihn danach zu fragen.
Bilder
von nie gesehenen Ländern, die sich durch die Berichte ihrer
seefahrenden Brüder, durch Erzählungen Bereneikes in ihr gebildet
hatten, stiegen in Kassandra auf. Gemeinsam
mit dem geliebten Mann den Fuß auf fremden Boden setzen. Gemeinsam das
Licht, die Luft, Gerüche und Geräusche auf sich wirken lassen, sie in
sich aufnehmen. Kassandra wurde das Herz leicht und schwer. Eine
Reise würden sie antreten, doch nicht Hand in Hand. Er würde
vorangehen, sie folgen. Das Tor durchschreiten, durch das wir alle
einmal hindurch müssen. Eine Reise, nach der wir uns zeitweise ebenso
sehnen, wie wir sie fürchten. Die Rede des Freundes holte Hannah aus
ihrer Versunkenheit zurück. »In welche Tiefen bist du schon wieder
abgetaucht? Komm, lass uns zahlen und noch ein paar Schritte gehen. Wer
weiß wie lange es so schön bleibt.«