Renate Solbach: Camera inversa | Klytämnestras Gefangene 8/6
Mit ihren Gesichten, war das ein wenig anders. Auch dabei handelte es sich um eine Geschichte, eine, die in ihr hochstieg, ohne Hilfe des Buches. Die Geschichte quälte sie, wollte aus ihr heraus, doch es fanden sich keine angemessenen Worte, als seien sie ausgegangen. Bilder überfluteten Kassandra. Oftmals glaubte sie an den Worten, die sich nicht formen wollten, ersticken zu müssen. Sie geriet ins Stammeln, ihr wurde schwarz vor Augen. Mehr als einmal war sie in solchem Zustand in Ohnmacht gefallen, da sie ihn nicht länger ertragen konnte. Man schleppte sie dann, meist erledigte das eine der Dienerinnen, in ihr Schlafgemach, öffnete ihr Kleid, wusch mit feuchten Tüchern die Schweißperlen ab, die bei solcher Gelegenheit ihre Stirn reichlich bedeckten. Sie hat wieder eine Ahnung, hieß es dann. Doch sie hatte eben ›keine‹ oder ›nur‹ eine Ahnung. Wer sollte diesen Unterschied verstehen?
   © Acta litterarum 2009