Renate Solbach: Camera inversa | Klytämnestras Gefangene 8/5
Kassandra besaß keine Bibliothek. Sie hatte nur dieses eine Buch. Darin las sie ihr ganzes Leben. Las hier ein Wort und dort eines. Worte verwoben sich zu Sätzen, Sätze schlossen sich zusammen, verdichteten sich zu Geschichten und ergaben einen guten Sinn. So hatten sie es ihr Leben lang gehalten. Diese Geschichten erzählte sie den anderen. Die lachten, spotteten über sie, sagten Was Du Dir immer ausdenkst! So geht es doch gar nicht zu in der Welt. Und dann geschah das Befremdliche. Die Wirklichkeit glich sich den Geschichten an. Alles, was sie erzählt hatte, geschah. Genau so oder ein klein wenig anders. Kassandra wurde den anderen unheimlich. Bis auf wenige Menschen, die ähnlich dachten und fühlten, wollte niemand mehr ihre Geschichten hören. Behalt deine Worte für dich, wir wollen sie nicht hören. Alles, was du erzählst, geschieht früher oder später. Lass uns zufrieden! Sie begriffen nicht, dass Kassandra sie warnen wollte, denn irgendwann hatte sie begriffen, was es mit den Geschichten auf sich hatte. Am Anfang steht die Überlegung, dass der Zuschauer einer Begebenheit zur Existenz dieser Begebenheit nichts beiträgt. Hingegen hänge die Erkenntnis dieser Begebenheit sowie die aus ihr fließende Erzählung notwendig von der Existenz eines Zuschauers und dessen Beschaffenheit ab. Also sei der Ort, an dem das Auge des Zuschauers sich während des Geschehens befindet, schließlich jedoch der Zustand des Leibes und der Seele, mithin des Gantzen Menschen, der einer Sache und Begebenheit zuschauet, in Rechnung zu stellen, wenn man seinen Empfindungen zur Zeit des Geschehens und den von ihnen herrührenden Erzählungen auf den Grund gehen möchte.
   © Acta litterarum 2009