Renate Solbach: Camera inversa | Klytämnestras Gefangene 8/4
Gern hätte sie mit einem Gott geschlafen. Nein, es war nicht die Angst gewesen, er könne von ihr Besitz ergreifen, die Angst, nicht zu sich zurückzufinden. Diese Ausdeutungen waren lächerlich, einem banalen Verständnis geschuldet. Sicher, es hätte eine Zeit gedauert, aber eben nur eine gewisse Zeit. Was sie zurückschrecken ließ, war die Angst, dass sich nichts weiter ereignen könne oder die Angst... hier stockten ihre Gedanken einen Moment, die Angst, dass sie wieder das lähmende Entsetzen des jähen Umschlags ergriffe...
Kassandra massierte ihre Schläfen, versuchte Klarheit zurückzugewinnen. Was war das? Befand sie sich in einem Traum? Sie griff unter ihr Kopfkissen, holte das marmorierte Buch hervor und blätterte geistesabwesend darin. Woher kamen die Gedanken? Die Dämmerstunde, der Raum zwischen Tag und Nacht, ließ ihren Geist in alle Richtungen schweifen. Sie hatte Zugang zu Ereignissen und Gedanken, die nicht die ihren waren. Wohin trugen sie sie? In die Vergangenheit, in die Zukunft? Gab es über alle Abgründe der Zeit, der Kultur hinweg eine Verbindung zu Menschen, zu ihren Träumen, ihrem Denken und Fühlen? War das ihr Schicksal? Ihr fiel kein anderes Wort ein, für diese Macht oder Kraft, die das Leben mitunter bestimmte, es in einen leise hinplätschernden Bach oder einen reißenden Strom verwandeln konnte. Plötzlich blieb ihr Blick an einem Abschnitt des Buches hängen. Ein Satz schälte sich aus den schwarzen Kolonnen und forderte genaues Lesen. Kassandra las und las. Immer diesen einen Satz. Sie machte Licht, da die Dunkelheit so weit fortgeschritten war, dass die Buchstaben sich kaum noch von ihrem Untergrund abhoben. Nach einiger Zeit bemerkte sie, dass kein Licht vonnöten war. Das Gelesene drehte sich im Kreis, während die Gedanken rasten.
   © Acta litterarum 2009