Renate Solbach: Camera inversa
| Klytämnestras Gefangene 8/3
Agamemnon
überschüttete Kassandra in diesen nachmittäglichen Stunden mit seinen
Fragen und Zweifeln. Sein Haupt, von dichtem, lockigem, an den Schläfen
bereits ergrautem Haar umflossen, ruhte in ihrem Schoß. Er liebte es,
wenn sie mit sanfter Hand sein Haar zauste und dabei ab und an
begütigend über seine Stirn strich. Kassandra hörte ihm zu. Hin und
wieder ergriff auch sie das Wort.
Solch liebender Feind war ein
letztes großes Geschenk vor dem vorausgeahnten Tod. Ein oder zwei
Wochen blieben ihr noch. Sie spürte es genau. Alle Fasern ihres Körpers
sehnten diesen Punkt herbei, während sie sich vor der damit
einhergehenden Auflösung fürchteten. Die letzten Stunden sind doch besonders kostbar.
War es Liebe, was diese beiden miteinander verband, oder war es jene
dunkle Macht, die Schicksal zu nennen nicht eines zynischen
Beigeschmacks entbehrt, die Menschen zuzeiten aber stärker aneinander
fesselt, als jede freiwillig eingegangene Bindung? Kassandra versuchte,
sich darüber Rechenschaft abzulegen. Zweifellos war die sexuelle
Begierde nicht nur Agamemnon und der Sonne geschuldet, sondern hatte
eine ihrer Wurzeln in dem nie ganz gestillten Lebenshunger, der sich
kurz vor dem erahnten Ende noch einmal mit einer Heftigkeit meldete,
die ihren Körper bisher nur vage geahnte Dinge tun ließ, sie jedesmal
in einen Taumel versetzte, der anschließend so abrupt endete, wie er
sie vorher erfasst hatte. Ebenso genoss sie die Stunden des Gesprächs,
die sie in solcher Intensität ihr Leben lang herbeigesehnt hatte.
Selten hatte die Menschen ihrer Umgebung die eigenartige Scheu
verlassen, die eine schwieriger zu überwindende Hürde bildete als
Abneigung oder Hass.