Renate Solbach: Camera inversa | Klytämnestras Gefangene 8/2
Kassandra streckte ihre von der Liebe ermatteten Glieder. Die kühlen Laken taten dem Körper wohl. In diesen Raum kam niemand außer ihr, weder Agamemnon noch der Dienerin erlaubte sie, ihn zu betreten. Solchen Rückzugsraum hatte sie stets als lebensnotwendig empfunden, da es ihr schwer gefallen war, mit ihrer Gabe zu leben. Sie fühlte sich ausgeschlossen. Ausgeschlossen vom Glück der anderen. Was für ein Glück? Banal, zurechtgelegt, auf jede nur erdenkliche Lebenslüge angewiesen. Dennoch, Kassandra war nicht frei von Neid. Ihr Glück war immer erkauft mit großem Schmerz.
Entgegen ihrem Ruf liebte Kassandra die Männer. Agamemnon aber war der Erste, dem sie sich gern hingab, da er ihr fremd war und blieb. Eigentlich hätte er als ihr Feind gelten müssen. Sie schätzte seine Zurückhaltung, die er nur beim Liebesspiel ablegte. Nie versuchte er, ihr Wesen zu erkunden, in ihre Geheimnisse einzudringen. Vielmehr sprach er stundenlang – Erregung und Resignation färbten seine Rede in fliegendem Wechsel – über sich, den Krieg, über Iphigenie, die geopferte Tochter, die er so schmerzlich vermisste, über seine Söhne, deren Zuneigung und Vertrauen ihm versagt geblieben, da es der Mutter gelungen war, den Keil der Entfremdung zwischen sie zu treiben.  Sicher auch eine Folge der langen Abwesenheit zu Zwecken des Krieges. War das nicht Männerschicksal zu allen Zeiten, in die Welt zu ziehen, Krieg zu führen zum Wohle der Ihren, der Daheimgebliebenen? Warum machten die Frauen es den Männern so schwer, dieses ihr Schicksal zu leben? Beruhte das Ganze auf einer verzerrten Wahrnehmung, auf einem unüberbrückbaren Abgrund zwischen den Geschlechtern?
   © Acta litterarum 2009