Renate Solbach: Camera inversa | Klytämnestras Gefangene 5/3
Freilich, sie hatte sich in die Nesseln gesetzt, aus freiem Willen, mit voller Absicht, doch ohne zu wissen, was sie tat. Das Trügerische, die unsichtbare Kehrseite der lusterweckenden Dinge waren es nicht alleine, die sie vorsichtiger werden ließen. Wild aufschießende, nur dem Augenblick geschuldete Wünsche, die keiner Prüfung unterzogen wurden, waren ihr seitdem in hohem Maße verdächtig. Sie erkannte ihre irreleitende Flüchtigkeit in Bezug auf eine tragfähige Basis des Handelns. Gemeint ist damit die elementare Erfahrung eines organischen Systems, das bewusst intentional sich zu verhalten in der Lage ist, seine Vorstellungen und Gedanken in seine Gefühle einlassen und einwirken lassen zu können, sowie umgekehrt diese, dass sowohl das naturale wie auch das intentional rückbestimmte Gefühlsleben, wie es in bloßer Bewusstheit sich meldet und präsent ist, eine nicht nur begleitende, sondern bisweilen sogar bestimmende Bedeutung im bewussten, d. h. kontrollierten Leben des Denkens spielt. Solche Bestimmungen waren Hannah fremd. Die Erkenntnis schoss ebenso jäh auf wie das Brennen im Grünfeld. Erst leibhaftig empfunden, fand sie sich im Laufe der Zeit in Gedanken und Worte gekleidet wieder und bestimmte Hannahs Umgang mit Emotionen ein Leben lang. Transformation oder Untergang! Wonach richtete sich die Wirkung eines Nessusgewandes? Die eigene Haut? Fühl dich wohl! Was gewinnt (oder verliert) wer es unternimmt?
   © Acta litterarum 2009