Renate Solbach: Camera inversa
| Klytämnestras Gefangene 6/2
Zum
Wesen der griechischen Seher soll es von alters her gehört haben, dass
sie nicht nur die Zukunft prophezeiten, sondern volles und gültiges
Wissen von Gegenwart, Zukunft und Vergangenheit besaßen. Ist solcher
Prophet Künder der Botschaft eines Gottes? Kassandra spricht die
Wahrheit stets aus, die ihr zuteil wird. Sie entzieht sich nicht ihrer
Verantwortung, ist wahre Prophetin. Wahr ist auch ihre Prophetie, doch
die Umgebung verweigert die Anerkennung der Wahrheit. Sie fürchtet das
Wort als magisches, als werde es erst durch ihr Voraussagen
Wirklichkeit. In gewisser Weise trifft das zu, denn erst das Eintreten
der in den Wind geschlagenen Ahnungen gibt ihr recht. Erst der Unglaube
lässt das Erahnte, als eintretendes Ereignis, zur Wahrheit werden. Ach
Jona, wie beneid’ ich dich. Dein Gott ist anders, kennt das Schicksal
nicht, das ohnmächtig beuget selbst unsrer Götter Macht. Dir jedoch
nützt es kaum. Den Menschen nur, von deinem Wort geweckt, die in sich
gehen und das Rechte tun. Was aber ist das Rechte? Wahre Prophetin sein
heißt, leben mit Erfolg, der Untergang bedeutet. Doch ungerecht ist
dieser Neid, ich seh’ es ein. Untergang ist’s in beiden Fällen. Sind
wir nur Instrument des Untergangs? Sie oder wir! Erfüllst die Aufgabe
du nach Maßgabe deines Gottes, löschst du dich selber aus, negierst die
Ichwerdung, die zuvor du mühsam dir erdacht. Das ist der Flügelschlag
des Menschseins, in dieser Spanne leben wir. – Was ist mit mir? So
fremd bereits die eigenen Gedanken. Wer die Mahnung oder Warnung
ausspricht und Recht behält, redet wahr. Die Umwelt straft ihn dafür,
bestätigt sein Anders-Sein, sein Nicht-dazu-Gehören. Ginge sie auf
seine Warnung ein, so löschte sie ihn als Individuum aus, beendete
seine Sonderrolle. Der Prophet würde Teil des Allgemeinen, seine Rede
banal.