Renate Solbach: Camera inversa | Klytämnestras Gefangene 6/3
Welcher Art sind Kassandras Prophetien? Sie verkündet ohne befragt zu werden, sie hat keine feste Verbindung zu einem anerkannten Orakelsitz. Die Ermächtigung zu sprechen, gibt sie sich selbst, auch wenn sie bei jedem ihrer Gesichte Apoll anruft. O Apollon! Wirkt das nicht wie ein Klagelaut? Wie eine Beschwörungsformel eher, denn wie eine Beglaubigung?
Der Chor greift es in seiner Rede auf und Kassandra bestätigt es durch ihre Antwort: ihre Prophezeiungen entspringen genauem Hinsehen, der Einsicht in die menschliche Natur, den folgerichtigen Schlüssen, die sie aus ihren Analysen – seien sie noch so intuitiv gesteuert – zieht. Der Blick von außen in die inneren – eigenen und fremden – Verhältnisse, die Tatsache nicht ›wirklich‹ involviert zu sein, der Distanzblick, der auf Werturteilen beruht, die nicht den wechselnden Moden und Verhältnissen unterworfen sind, sind die Basis ihres Sehens. Es schüttelt mich, welch bodenlose Heuchelei! Verschwiegen soll der Urgrund ihres Handelns ihnen bleiben. Danach nur trachten sie. Vogelflug, Augurenschau, Traumdeutung selbst, das ganze Arsenal mantischer Kunst – in diesem Sinn nur wollten sie mein Urteil hören. Sollt meine Gabe ich verleugnen, um ihr Bedürfnis zu befriedigen? Wie unsinnig, kindisch und verlogen mich das alles deucht. Das Grimmen, die Schauder, die ihr Trachten mir bereitet, sie nehmen es als Krankheit. Als göttliche zwar, doch sperrten sie mich ein. Welchen Nutzen bracht es ihnen? Der Untergang war ihrer, schon bevor’s begann. Der meine ist nun nicht mehr weit. – Ein Wort noch will ich sprechen, sei’s auch um mich selbst die Totenklage. Geliebtes Buch, wirst dieses Wissen mich überdauernd der anderen du schenken? Vorgängige Erinnerung...
   © Acta litterarum 2009