Renate Solbach: Camera inversa
| Klytämnestras Gefangene 4/3
Beim
Besuch bei der Großmutter sollte es sich zugetragen haben, der Mutter
des Vaters, einer Frau, die Hannah seltsam fremd geblieben war.
Zerfurcht und von der Sonne gegerbt war sie ihr Inbild der Landfrau,
die in schweren Zeiten die beiden Kinder alleine großgezogen hatte.
Eine Irritation in Hannahs Erinnerung war das bigotte Verhalten der
Großmutter. Die Frömmigkeit erforderte den täglichen Kirchgang. Ihre
beißenden Reden über die Kirchenbesucher machten das anschließende
Frühstück zu einem unverzichtbaren Ritual des sich abzeichnenden
Tages. Stets beschlich Hannah die unangenehme Empfindung, gerade dieses
Gerede sei das gemeinschaftsstiftende Moment zwischen der Großmutter
und den anderen, die sich zäh und verbissen jeden Morgen zum
gemeinsamen Gottesdienst versammelten. Die Reden der Mutter zeichneten
das Bild einer gefühlskalten, bösen Frau, von der sie sich gehasst, ja
sogar verfolgt fühlte.
Ungebremst in seinem Bewegungsdrang und
unachtsam auf die Schnur, die zur Steckdose führte, hatte das kleine
Mädchen bei einem Besuch den Tauchsieder heruntergerissen. Das kochende
Wasser ergoss sich über sein Bein. Maria, hilf!
soll es gerufen haben und dann in Ohnmacht gefallen sein. Weder in
Bezug auf das Ereignis selbst, noch auf den anschließenden
Krankenhausaufenthalt verfügte Hannah über die leiseste Erinnerung. Ein
Leben lang trug sie eine Narbe mit sich herum, die von einer Verletzung
herrührte, die keine Spur in ihrem Gedächtnis hinterlassen hatte.