Renate Solbach: Camera inversa | Klytämnestras Gefangene 4/3
Beim Besuch bei der Großmutter sollte es sich zugetragen haben, der Mutter des Vaters, einer Frau, die Hannah seltsam fremd geblieben war. Zerfurcht und von der Sonne gegerbt war sie ihr Inbild der Landfrau, die in schweren Zeiten die beiden Kinder alleine großgezogen hatte. Eine Irritation in Hannahs Erinnerung war das bigotte Verhalten der Großmutter. Die Frömmigkeit erforderte den täglichen Kirchgang. Ihre beißenden Reden über die Kirchenbesucher machten das anschließende Frühstück zu einem  unverzichtbaren Ritual des sich abzeichnenden Tages. Stets beschlich Hannah die unangenehme Empfindung, gerade dieses Gerede sei das gemeinschaftsstiftende Moment zwischen der Großmutter und den anderen, die sich zäh und verbissen jeden Morgen zum gemeinsamen Gottesdienst versammelten. Die Reden der Mutter zeichneten das Bild einer gefühlskalten, bösen Frau, von der sie sich gehasst, ja sogar verfolgt fühlte.
Ungebremst in seinem Bewegungsdrang und unachtsam auf die Schnur, die zur Steckdose führte, hatte das kleine Mädchen bei einem Besuch den Tauchsieder heruntergerissen. Das kochende Wasser ergoss sich über sein Bein. Maria, hilf! soll es gerufen haben und dann in Ohnmacht gefallen sein. Weder in Bezug auf das Ereignis selbst, noch auf den anschließenden Krankenhausaufenthalt verfügte Hannah über die leiseste Erinnerung. Ein Leben lang trug sie eine Narbe mit sich herum, die von einer Verletzung herrührte, die keine Spur in ihrem Gedächtnis hinterlassen hatte.
   © Acta litterarum 2009