Renate Solbach: Camera inversa
| Klytämnestras Gefangene 3/3
Indessen that man sie doch hernach gar in solchen Tempel, damit sie die Wahrsagerkunst darinnen recht eriernete.
Ein weiterer Aspekt von Kassandras Geschichte, der durch die
Zeiten geistert und Hannah irgendwie begeisterte. Die Frau war
klüger als man glaubte, nur auf andre Weise. Die Eltern hatten das
Zeichen gedeutet und Kassandra – sei es auf ihren Wunsch, sei es aus
eigenem Antrieb – zur Ausbildung in den Tempel gegeben. Die
Wahrsagekunst recht erinnern, das ließ unterschiedliche Deutungen zu
(ein wenig beschwert durch den Vorgang der Übersetzung). Hieß es,
ewigen Ideen verpflichtet sein? Aber Platon war noch lange nicht
geboren. Konnte es nicht auch heißen, die richtigen – im Sinne des
herrschenden Systems – Inhalte und Formen vermittelt zu bekommen? Apoll
selber soll Kassandra versprochen haben, sie in der Weissagekunst zu
unterrichten, wenn sie ihm zu willen sei. Sich die Welt erklären lassen von einem Gott – welch atemberaubende Vorstellung.
Da sie auf solche Bedingung die Kunst von ihm erlernt hatte, soll sie
hernach ihr Gegenversprechen nicht gehalten haben. Das ›Wissen‹ konnte
er ihr nicht wieder nehmen, so habe er durch eine List bewirkt, dass
niemand ihren Prophezeiungen glaubte. Nach dem Mythos verweigerte
Kassandra die Zusammenkunft mit dem Gott, verschmähte seine Liebe. ›Zu
willen sein‹ kann natürlich auch die sexuelle Vereinigung meinen. War
sie von der Angst geleitet, er könne von ihr Besitz ergreifen, sie zum
Werkzeug seiner Intentionen machen? Hatte sie Angst seinen
Einflüsterungen zu erliegen? Die innere Stimme wäre nicht die eigene.
Aber war sie es je? Gab es überhaupt die innere Stimme? Ist es nicht
eine Vielzahl von Stimmen, ein ganzer Chor, der unser Inneres bevölkert?