Renate Solbach: Camera inversa | Klytämnestras Gefangene 3/4
Abgesehen von der funktionalen Bedeutung, die mythische Erklärungsmuster als nachträgliche Plausibilisierungen dessen haben, was nicht erklärbar scheint, fiel Hannah eine Diskrepanz ins Auge: Einerseits war von einer Gabe die Rede, einer besonderen, verliehenen Fähigkeit, andererseits fielen die Worte ›Kunst‹ und ›Wissen‹. Also musste es erlernbar und nach Regeln praktizierbar sein. Die Ambivalenz machte deutlich, dass es bezüglich dieser Gabe dieselbe nicht aufzulösende Verquickung zwischen Intuition und Ratio gab wie bei der Entstehung von Literatur. Je ne sais quoi! Eine Erkenntnis, die nicht sonderlich tiefsinnig war, aber klar werden ließ, dass auch das Männlich-Weiblichkeits-Schema, das immer wieder bemüht wurde, nicht als Grundlage einer vertrauenswürdigen Auskunft taugte.
Zurück aber zu Kassandra. Sie verweigerte also die Liebe Apolls, was ihr nicht nur den Unglauben der Zeitgenossen, sondern – in deren und der Späteren Augen – auch eine gewisse Mitschuld an diesem Unglauben und dem daraus resultierenden Untergang eingetragen haben soll. Welch herrliche Gestalt! Sie weckte mein Begehren. Gern hätt‘ ich mich dem Fühlen überlassen, das mein Innres heiß durchströmte. Doch nein, das ging nicht an. – Alle werden es falsch verstehen, durch die Jahrhunderte, werden sicher mein Weibsein in arge Zweifel ziehen. Doch das ist mir nun einerlei. Es geht nicht an, es kann nicht Apoll gewesen sein. Verlangen kann nicht göttlich sein, das gegen ein anderes göttliches steht. Weh mir, wie sollt‘ Erkenntnis ich gewinnen? Nachgeben und Verweigerung, beide Wege führen ins Unglück. Ist das das Werk des Zweifels, die Konsequenz der eigenen Gedanken. Und doch begrüß’ ich euch, liebreizende Schwestern, versuch’ auch weiterhin, den Weg zu gehen, der euch zu eurem Recht verhilft.
   © Acta litterarum 2009