Renate Solbach: Camera inversa | Klytämnestras Gefangene 3/5
In Hederichs Gründliches mythologisches Lexikon las Hannah unter dem Punkt Wahre Historie, dass es sich nach Meinung einiger gar nicht um Apoll, sondern um einen Priester des Apoll gehandelt habe, der sich in Kassandras gute Gestalt vergaffet und sie gegen das Versprechen, sie die Wahrsagekunst zu lehren, zu seinem Willen zu bereden versucht habe, auf welche Verdingung sie sich zum Scheine eingelassen. Aus Rache habe dieser Priester Kassandra für verrückt erklärt. Der eigene Vater ließ sie daraufhin in einen Turm sperren, damit sie die Umgebung nicht mit ihren Gesichten und Sprüchen irritiere. In Kriegszeiten sicher auch eine politisch motivierte Maßnahme.
Nach Tzetzes floh Kassandra die Männer grundsätzlich, sei ihnen höchstens mit ihrer Gabe zur Seite gestanden. Weißt Du, diese Kassandra war eine Verrückte, war nicht ernst zu nehmen. Immerfort erzählte sie Geschichten, die niemand glaubte, die aber dennoch passierten. Sogar den Tod Agamemnons und ihren eigenen hat sie vorausgesehen. Wirklich eine Verrückte. Schön war sie. Sehr schön, sehr jung. Das ist nicht das gleiche, tu’ nicht so naiv – Barken der Traurigkeit schwammen in ihren Augen.
Hannah saß auf dem Boden. Die Beine gekreuzt, die Brille hochgeschoben sann sie ihren Lektüren nach. Rings um sie aufgeschichtet befanden sich diverse Bücherstapel. Die große Lesende. Living means not good enough. Alles, was sie hatte finden können über diese Person Kassandra. Natürlich war sie ihr schon vor ihrem plötzlichen Auftauchen ein Begriff gewesen. Homer, Aischylos, Euripides. Die Kenntnis war abstrakt und verschwommen, nicht allzu entfernt von jener landläufigen Sicht der Kassandra als Schwarzseherin und wirkungsloser Prophetin, die allen Leuten auf die Nerven geht mit ihrer insistierenden Art die Wahrheit zu verkünden. Selbst die Lektüre der Kassandra-Erzählung von Christa Wolf hatte Hannah wiederholen müssen. Die nur mäßige Erinnerung deutete darauf hin, dass Kassandra bisher keinen Raum in ihrem Leben beansprucht hatte. Plötzlich steht diese Person einfach in der Tür. Ist doch klar, dass ich nun wissen will, mit wem ich es zu tun habe. Hannah schmökerte mal hier, mal dort.
   © Acta litterarum 2009