Renate Solbach: Camera inversa | Klytämnestras Gefangene 3/6
Nach einigen soll sie zum Exempel dienen, daß man mit seinen Rathschlägen und Erinnerungen sich wohl nach der Zeit schicken, und sich mit selbigen nicht hartnäckig und ungestüm erweisen solle. Denn wer sich also bezeigen wollte, der bequemet sich nicht nach dem Apollo, als Gott der Harmonie, und nimmt der Dinge Weise und Maaß nicht in Acht, erhöhet oder erniedriget seine Stimme auch nicht so, wie er soll; oder unterscheidet die Ohren nicht, die ihn hören. Er richtet also mit seinem Rathen und Erinnern nicht viel aus, sondern zieht sich vielmehr oder auch denen, welchen er sich aufdringt, selbst das Verderben zu, und wird nicht eher für den Propheten und vorsichtigen Mann erkannt, als bis ein unglücklicher Ausgang die Wahrheit seiner Reden erwiesen hat. Eine Deutung, die Hannah bei Baco Verulam las. Eine Deutung, die zeigte, dass es auch um die Entscheidung ging zwischen Wahrheit und  Erfolg. Sich einer erkannten Wahrheit verpflichten bedeutete nicht unbedingt, eine sozial anerkannte Rolle zu spielen. War das Verständnis dieses Passus wirklich so einfach? Kassandren gab es heute zuhauf. In massendemokratischen Zeiten  schien dieser Text sich auf andere Weise zu bewahrheiten. Schien er eine Weisheit zu enthalten, die verlorengegangen war. Heute hätte man Kassandra sagen müssen: »Gehen Sie nicht ins Fernsehen oder zur Bildzeitung! Dort ist ihnen großes Publikum gewiss, aber geringe Wirkung im Sinne der Vernunft. Niemand nimmt Sie ernst! Die richtigen Ohren für Ihre Botschaft sitzen woanders.« Heutzutage wäre es vielleicht besser, Kassandra veröffentlichte unter Pseudonym.
   © Acta litterarum 2009